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Aus: Ausgabe vom 07.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Pakistan nach den Wahlen

»Hinter der Regierung steht die Armee«

Über Pakistans neue Koalition unter Premierminister Sharif und was von ihr zu erwarten ist. Ein Gespräch mit Aasim Sajjad Akhtar
Von Karim Natour
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Hat Generäle im Rücken: Der neue pakistanische Premierminister Shehbaz Sharif (PML-N) am Montag in Islamabad

Aasim Sajjad Akhtar lehrt politische Ökonomie an der Quaid-i-Azam-Universität in Islamabad und ist stellvertretender Generalsekretär der linken Awami-Arbeiterpartei

Bei den pakistanischen Parlamentswahlen Anfang Februar erlangte die Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf, kurz PTI, des ehemaligen Premierministers Imran Khan, die meisten Stimmen. Das neue Kabinett bilden nun aber die Muslimliga, PML-N, und Pakistanische Volkspartei, PPP, die zweit- und drittstärkste Kraft wurden. Wer regiert das Land künftig ?

Die beiden Regierungsparteien könnte man als etablierte bürgerliche Parteien bezeichnen. Sie haben leicht unterschiedliche historische Wurzeln. Die PML-N ist eine eher städtische Partei der Händler und Industriellen. Die PPP hat eine längere Geschichte und vertritt in jüngerer Zeit vor allem die Interessen von ländlichen Grundbesitzern, besonders in der Provinz Sindh im Südosten des Landes.

Das Besondere an Khans PTI, die 2018 bis 2022 regierte, war, dass sie eine relativ neue Kraft war. Erst vor etwa zwölf Jahren wurde sie zu einem wichtigen Akteur. Erfolg hat sie insbesondere bei der jüngeren Generation, die von den etablierten Kräften anscheinend die Nase voll hat. Dieses Phänomen ist ein globales: Die PTI ist keine fortschrittliche Partei, sie steht programmatisch rechts; aber wie viele andere rechtspopulistische Parteien spielt sie mit der Unzufriedenheit jüngerer Menschen und kann so von deren Frustration wegen des Bestehenden profitieren.

Gehen Sie davon aus, dass die PTI-Anhänger die neue Regierung einfach hinnehmen werden? Die Partei hat ja schließlich die meisten Stimmen erhalten.

Der formale Prozess der Regierungsbildung wurde nicht gestört. Da die älteren Parteien als Teil einer korrupten, quasi ununterbrochenen Abfolge von Familienführern wahrgenommen werden, wird aber das Gefühl der Entfremdung und Frustration bleiben. Vergangene Woche hat die Provinzialversammlung des Punjab eine Ministerpräsidentin gewählt, die die Tochter von Nawaz Sharif ist. Der ehemalige pakistanische Premierminister ist ein einflussreicher PML-N-Politiker. Sein Bruder, Shehbaz Sharif, wurde am Sonntag vom Parlament zum neuen Premierminister gewählt …

Also geht alles so weiter wie bisher.

Als die PTI 2022 von der Armee aus dem Amt geputscht wurde, gab es an der Basis der Partei eine starke Reaktion auf die Tatsache, dass in Pakistan im wesentlichen das Militär die Geschicke lenkt. Doch die Unzufriedenheit damit brodelt eher unter der Oberfläche und wird daran kurzfristig wohl eher nichts ändern, auch weil die PTI keinen organisierten Widerstand auf die Straße bringen kann. Vor dem Hintergrund, dass die grundlegenden Krisen im Land weiter bestehen werden, erwarte ich keine stabile Zukunft für die neue Regierung. Man kann nur spekulieren, ob es zu Straßenprotesten kommen wird oder ob sich die Generäle, wenn es soweit ist, einfach wieder ein neues »Pferd« suchen, auf das sie setzen.

Warum verlor die PTI 2022 den Rückhalt des Militärs?

Möglicherweise hat die Armeeführung damals gehofft, dass der ultrarechte, in gewissem Sinne populäre Anführer Khan eine »stabile« Alternative zu den bürgerlichen Parteien sein könnte. Man kann die Probleme im Land, die mit der strukturellen Krise des Kapitalismus zusammenhängen, aber nicht einfach mit einem Wink – durch ein neues Gesicht, einen charismatischen Mann – wegzaubern. Während der Covid-19-Pandemie verschuldete sich Pakistan noch mehr, es gab einen wirtschaftlichen Abschwung. Dazu kommt, dass wir eine sehr junge Bevölkerung haben. Das Durchschnittsalter der rund 230 Millionen Einwohner liegt bei 23 Jahren! Viele von ihnen haben keine Arbeit. Diese Gruppe ist durch die Nutzung digitaler Medien außerdem in der Lage, ihre Unzufriedenheit relativ einfach online zum Ausdruck zu bringen. Als das ab 2020 mehr und mehr passierte, verließ sich die PTI zunehmend auf den Einsatz von Gewalt, um die zugrundeliegende Unzufriedenheit zu unterdrücken. Daraufhin entschloss sich die Armee wieder einmal, das »Gesicht« der Herrschaft auszutauschen, weil es zu unpopulär geworden war. Die als »neu« präsentierte Lösung war aber nicht neu, sondern bestand in den etablierten Parteien PML-N und PPP.

Bei den Wahlen durften die Kandidaten der PTI nur als »unabhängige« antreten. Am Wahltag selbst wurde das Mobiltelefonnetz des Landes abgeschaltet, und die Auszählung zog sich über Tage hin. Wie schätzen Sie den Verlauf der Wahlen ein?

Die Repression bei den Wahlen war ziemlich offensichtlich. Aber das Phänomen begann bereits mit dem Putsch 2022. Seitdem wurde die PTI systematisch aus der Öffentlichkeit verdrängt. Imran Khan selbst wurde kurz vor der Wahl in drei verschiedenen, ziemlich lächerlichen Fällen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Viele seiner Kollegen verließen daraufhin die Partei. Aktivisten aus dem PTI-Umfeld sind seitdem von Repressionen betroffen. Vor den Wahlen im Februar hat man der Partei von Imran Khan sogar das offizielle Logo weggenommen. Mit der Regierung seit 2022, einer Koalition aus PPP, PML-N und kleineren Parteien, waren aber aufgrund der wirtschaftlich schlechten Lage sehr viele Leute unzufrieden. Das erklärt den Erfolg der PTI-Kandidaten.

Sie sagen, die Übergangsregierung hat die Wahlen manipuliert?

Hinter der Regierung steht, wie erläutert, die Armee. Wenn man also über die Ereignisse am Wahltag selbst spricht, weiß jeder in Pakistan, dass die Dinge auf Geheiß der Armeeführung geschehen.

Das Land befindet sich seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise; die pakistanischen Taliban, Tehrik-i-Taliban, haben in letzter Zeit vermehrt Anschläge verübt. Wird die neue Regierung in der Lage sein, diese Probleme zu lösen?

Den Kern der Probleme in Pakistan bilden die wirtschaftlichen Interessen des Militärapparats. Man muss also fragen: Wird die neue Regierung bereit sein, diese Interessen zu benennen? Wird sie einen Prozess der Umverteilung einleiten, um den Militärs Land und andere Vermögenswerte wegzunehmen? Selbstverständlich nicht. Keine dieser Parteien wird das in Angriff nehmen, deshalb nenne ich das Ganze auch »Reise nach Jerusalem«, nach dem beliebten Kinderspiel: Die Plätze werden einfach getauscht, in der Sache macht das keinen Unterschied. Wenn eine der Parteien nicht mehr an der Macht ist, besinnt sie sich plötzlich auf ihre ursprünglich ausgegebenen Prinzipien und thematisiert zum Beispiel staatliche Unterdrückung oder ökonomische Ungleichheit. Sobald man aber einen »Stuhl« am »Tisch der Macht« ergattert hat, besteht keine Bereitschaft mehr, diese Themen überhaupt zu benennen! Alle Parteien in Pakistan konkurrieren um die Gunst der Armee. Dafür werden die Prinzipien konsequent über Bord geworfen.

Das klingt aussichtslos.

Die Frage ist, ob die jungen Menschen, insbesondere Anhänger der PTI, in der Lage sind zu durchschauen, dass es keinen Unterschied macht, ob sie die PTI oder PML-N oder die PPP wählen. Und das gilt nicht nur für Pakistan. Als Linke müssen wir die jungen Leute, die sich von rechten Varianten des Populismus angezogen fühlen, ansprechen und sie zu einer substantiellen, materialistischen politischen Analyse führen.

Welche linken Kräfte gibt es in Pakistan, und wie schätzen Sie deren Potential ein?

Ich engagiere mich seit etwa 25 Jahren in der linken Politik. Tatsächlich gibt es populäre, progressive Bewegungen in Pakistan. Und es gibt auch eine Basis für klassenbasierte Bewegungen; noch mehr für Bewegungen, die die Rechte ethnischer Minderheiten thematisieren, zum Beispiel die paschtunische Antikriegsbewegung. Wir versuchen seit jeher, diese Bewegungen zu vereinen. Wenn ich ehrlich bin, ist der aktuelle progressive politische Aktivismus leider nicht ausreichend organisiert. Es existieren zersplitterte Akteursgruppen, die vor allem Partikularinteressen im Blick haben.

Hintergrund: Militärstaat Pakistan

Die Teilung der Kolonie »Britisch-Indien« im Jahr 1947 in das hinduistisch dominierte Indien und den islamisch geprägten Staat Pakistan (inklusive Ost- und Westpakistan) führte zu dauerhaften Spannungen zwischen den beiden bevölkerungsreichen Ländern, die seit 1978 respektive 1998 Atomwaffen besitzen. In der Grenzregion Kaschmir kommt es seit 1947 regelmäßig zu bewaffneten Konflikten. Der Landstrich ist derzeit die am stärksten militarisierte Zone der Welt. 1971 unterstütze Indien die ethnische Minderheit der Bengalen, die in Ostpakistan die demographische Mehrheit stellte, in ihrem Befreiungskrieg gegen Pakistan, was im selben Jahr in der Gründung des Staates Bangladesch mündete. Während des Kriegs beging die pakistanische Armee einen Genozid an der bengalischen Bevölkerung, bei dem laut bangladeschischen Behörden fast drei Millionen Menschen getötet wurden.

Die Verfassunggebende Versammlung von Pakistan erklärte das bis dahin »unabhängige Dominion des Britischen Empire« 1956 zur »Islamischen Republik Pakistan«. In den folgenden zwei Jahren kam es zu politischen Unruhen, bis der erste pakistanische Präsident, Iskandar Ali Mirza, 1958 die Verfassung aufhob und politische Parteien verbieten ließ. Das Militär verhängte daraufhin Kriegsrecht und entmachtete Mirza. Seitdem hat die Armee eine hervorgehobene Stellung in der pakistanischen Politik. 2023 verlieh der »Pakistan Army (Amendment) Act« dem Geschäftsimperium der Militärs Legalität und kriminalisierte wiederum Kritik an den Streitkräften.

Seit 2007 begeht die Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP), eine Dachorganisation verschiedener islamistischer bewaffneter Gruppen, die entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze operieren, Anschläge gegen die pakistanischen Streitkräfte. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen den afghanischen Taliban und der US-Regierung im Februar 2020 hat die TTP ihre Aktivitäten verstärkt. Auch in der an den Iran grenzenden Provinz Belutschistan, in der seit Jahren separatistische Bestrebungen der Volksgruppe der Belutschen zu Aufständen gegen die Regierungen Pakistans führen, kam es zuletzt vermehrt zu Anschlägen.

Seit 2022 steckt das Land zudem in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Teuerungsrate erreichte mit 29 Prozent den Höchststand. Die Weltbank prognostizierte für 2023, dass 37,2 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze leben – ein Ergebnis der Inflation und der Zerstörung von Ernten durch Überschwemmungen seit 2022, durch die Millionen von Menschen vertrieben wurden. Bereits vor den Überschwemmungen hatte die Covid-19-Pandemie in vielen Wirtschaftszweigen zu Einbrüchen geführt. (kan)

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