4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Gegründet 1947 Sa. / So., 04. / 5. Mai 2024, Nr. 104
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten 4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
Aus: Ausgabe vom 05.03.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kunst

Die fremden Brüder

Aus Sicht des Südens: Eine Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt über gute und schlechte Erfahrungen mit der DDR
Von Gerhard Hanloser
B_MA_1354_bearbeitet.jpg
Christoph Wetzel: Das jüngste Gericht (1987)

Nein, diese DDR-Ausstellung ist keine »westdeutsche Erfindung«. Sie ist nicht der Projektionsraum der westlich-kapitalistischen Sieger, viel eher ist der Besucher des Berliner Hauses der Kulturen der Welt (HKW) mit einem gebrochenen Bild der DDR aus Sicht des globalen Südens konfrontiert. »Was ist der Preis der Erinnerung, und wie hoch sind die Kosten der Amnesie? Oder: Visionen und Illusionen antiimperialistischer Solidarität« lautet der lange und aussagekräftige Titel der neuen, am 1. März angelaufenen Ausstellung. Verspielt-beliebig könnte die dauerhafte Fahneninstallation gleich in der Zugangskurve zum Kulturpalast wirken. Olu Oguibe hat auf drei Fahnen die Buchstabenfolge D-D-R gedruckt, der schwarz-rot-gelb-grüne Grund kombiniert die Farben der panafrikanischen Bewegung mit denen der deutschen Flagge. Der nigerianisch-US-amerikanische Konzeptkünstler löst die Abkürzung klimabewegt, antikolonial und im Geiste globaler Gerechtigkeit auf: »Decarbonize, Decolonize, Rehabilitate« (Dekarbonisieren, Dekolonisieren und Wiederherstellen).

Die DDR, die reale sozialistische Gesellschaft auf deutschem Boden, kommt dabei in den zwei Ausstellungsräumen und den Installationen im ­Foyer nicht ganz schlecht weg. Sie erscheint sogar angesichts einer vom globalen Kapitalismus beherrschten Welt wie ein Sehnsuchtsort, zumindest wie ein wiederzuentdeckender Potentialis. Man wolle die DDR nicht glorifizieren, sagt Intendant und Chefkurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, sie aber auf keinen Fall dämonisieren. Vielfältige Erfahrungen und bewegende Zusammenkünfte hätte es schließlich unter dem Banner der internationalen Solidarität gegeben. Dies verdeutlicht nicht zuletzt eine sorgfältig ausgesuchte Plakatwand mit Agitprop für Puerto Rico, Chile, Kuba, dem Aufruf zu Afrokommunismus und gegen die südafrikanische Apartheid. Die Ergebnisse des Kulturabkommens zwischen der DDR und Äthiopien von 1978 lassen sich hier ebenso begutachten wie Grafiken des jungen, über den Kommunistischen Jugendverband von Palästina nach Dresden an die Hochschule für Bildende Künste gekommenen Abed Abdi, der dort von der jüdischen deutschen Antifaschistin Lea Grundig betreut wurde. Aus dem Kunstarchiv Beeskow stammen drei Gemälde und eine Textilarbeit, die ganz im Geiste der globalen Solidarität gehalten sind. Der Wandteppich »Symbole der deutsch-sow­jetischen Freundschaft« von 1977 wurde von Studenten der Kunsthochschule Berlin-Weißensee gemeinsam mit der Hochschule für angewandte Kunst »Wera Muchina« Leningrad erstellt. Horst Webers Öl-Leinwand-Collage mit Zeitungsartikeln über globale Repression gegen Befreiungsbewegungen trägt den Namen »menschliches Verhalten«. Mit am eindrucksvollsten dürfte wohl das Ölbild des Berliner Künstlers Christoph Wetzel sein, das Kinder aus Palästina, Äthiopien, Nicaragua, Vietnam, Libanon und dem Kongo neben einem deutschen Jungen zeigt. Ihre fest auf den Betrachter gerichteten Blicke sind voll Trotz, Behauptungswillen, Resilienz, ihnen ist aber auch die Erfahrung von Rassismus und Ausgrenzung ins Gesicht geschrieben.

Die Ausstellung verdeutlicht, dass bei aller propagierten und gelebten internationalen Solidarität dieser Selbstanspruch der DDR in einigen Aspekte Illusion blieb. Etliche Installationen und Exponate stammen von Künstlern, die selbst aus Familien sogenannter Vertragsarbeiter beispielsweise aus Mosambik stammen oder sich mit dem Gedächtnis und dem Wissen dieser Migranten auseinandersetzten. Diese werden in ihrem Herkunftsland in Verballhornung des Produkthinweises »Made in Germany« »Madgermanes« genannt, was auch »die verrückten Deutschen« bedeutet. Kein Wunder, sie mussten in der DDR in recht separierten Wohnheimen leben, waren mit Alltagsrassismus konfrontiert, Frauen wurden bei Schwangerschaft zur Abtreibung genötigt, schließlich wurden alle mosambikanischen Vertragsarbeiter 1990 durch die Bundesrepublik ausgewiesen. Viele klagen immer noch auf Entschädigung oder ausstehende Löhne und Renten ein. Kunst dient hier auch der Verarbeitung bitterer Erfahrungen, wie ein von Wasser umspieltes Modell eines Jugendstilbrunnens mit engelhaftem Kindchen, das eine zur Abtreibung gezwungene Künstlerin schuf.

Alte Genossen und junge Kommunisten, denen die DDR sehr am Herzen liegt, werden hier viel Ambiguitätstoleranz aufbringen müssen, im Idealfall erinnern sie sich angesichts dieser Kunst gewordenen negativen Erfahrungen mit dem deutschen Sozialismusversuch auch des hilfreichen bei Marx zu findenden Begriffs der Selbstkritik. Allein die Präsentation der Vielzahl der künstlerischen Ergebnisse und faszinierenden Möglichkeiten des Austauschs, die die DDR talentierten jungen Kämpferinnen und Kämpfern aus aller Welt bot – von Chile über Palästina bis auf den afrikanischen Kontinent –, macht den Besuch dieser Ausstellung für all jene zu einer Pflichtveranstaltung, die die DDR nicht als kolonial-westdeutsche Erfindung im historischen Diskurs stehenlassen wollen.

»Echos der Bruderländer. Was ist der Preis der Erinnerung, und wie hoch sind die Kosten der Amnesie? Oder: Visionen und Illusionen antiimperialistischer Solidarität«. Eine Ausstellung und Recherche im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, bis 20. Mai 2024

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Gert Wunderlich: Hemmungsloser Maximalprofit tötet Moral. Plakat...
    18.11.2023

    Meister der Form

    Eine Erinnerung an den Plakatkünstler, Typographen, Buch- und Schriftgestalter Gert Wunderlich anlässlich seines 90. Geburtstages
  • Zum Schießen: Ein Mann und sein Spielzeug (Werbeplakatausschnitt...
    15.07.2023

    Der musealisierte Rebell

    Würfeln mit Wolf: Eine Ausstellung zu Biermann im Deutschen Historischen Museum in Berlin

Regio:

Mehr aus: Feuilleton