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Aus: Ausgabe vom 05.03.2024, Seite 6 / Ausland
Türkei

Im Visier türkischer Staatsanwälte

Nach Ausreiseverbot wegen Reden in Frankfurt und Strasbourg: Aleviten-Vorsitzender zurück in Wien
Von Dieter Reinisch, Wien
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Musiker gedenken verstorbenen alevitischen Künstlern zum Jahrestag des Pogroms von Sivas (Bursa, 1.7.2023)

Groß war die Freude, als Mehmet Ali Çankaya am Sonntag nachmittag die Ankunftshalle betrat. Etwa zwei Dutzend Freunde waren gekommen, um den Ehrenvorsitzenden der Frei-Aleviten am Flughafen Wien-Schwechat abzuholen. Um 13 Uhr war er mit einem Flieger aus Istanbul gelandet, wo er fast vier Wochen zuvor an der Ausreise gehindert worden war.

Nach einem Besuch in dem von seiner alevitischen Konföderation gebauten Containerdorf in der vom Erdbeben vor rund einem Jahr betroffenen Regionen der Türkei, wurde ihm bei der Passkontrolle mitgeteilt, dass ein Gerichtsverfahren gegen ihn anstehe. Çankaya wurde dem Staatsanwalt und dem Richter vorgeführt und erhielt ein kurzzeitiges Ausreiseverbot. Die Anklagepunkte wurden ihm nicht sofort mitgeteilt. Im Gespräch mit der jW im Zentrum der Frei-Aleviten im 11. Wiener Gemeindebezirk Simmering erzählt er seine Geschichte. Es handele sich um drei Anklagepunkte, in denen die türkische Staatsanwaltschaft dem österreichischen Staatsbürger aufgrund seiner legalen politischen Arbeit in der EU »terroristische Propaganda« und »Unterstützung terroristischer Organisationen« vorwirft.

Der erste Anklagepunkt hängt mit einer Pressekonferenz der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Köln im Jänner 2023 zusammen. Im Zuge der Präsidentschaftswahlen in der Türkei sprach bei dieser Pressekonferenz auch Çankaya im Rahmen eines Komitees für Frieden, Arbeit und Freiheit. Dort sei eine Aussendung verlesen worden, die Çankaya weder geschrieben hatte noch verlas, erklärte der Vorsitzende der Frei-Aleviten Özgür Turak gegenüber jW: »Darauf bin ich angesprochen worden«, fügt Çankaya hinzu. »Ich war 15 Jahre Vorsitzender der alevitischen Föderation und nun bin ich Ehrenvorsitzender. Ich habe in dieser Rolle teilgenommen und werde dies auch in Zukunft tun«, erinnert er sich an seine Antwort an den Staatsanwalt zur Teilnahme an der HDP-Konferenz in Köln.

Neben der Pressekonferenz in Köln wird ihm eine Rede zum Gedenken an das Pogrom von Sivas vorgeworfen. Am 2. Juli 1993 wurden dabei in der mittelanatolischen Stadt 37 Menschen in einem Hotel am Rande eines alevitischen Festivals von einem islamistischen Mob verbrannt. Çankaya hielt die Rede in mehreren europäischen Städten, darunter Frankfurt am Main und Strasbourg. Darin warf er der Regierungsallianz unter anderem vor: »In Konya werden von AKP und MHP kurdische Wohnungen niedergebrannt«. Die Rede wurde von der kurdischen Nchrichtenagentur ANF und anderen Medien verbreitet. Auch das ist Teil der Anklage.

Am 23. Dezember 2022 starben drei Personen bei einem Attentat auf ein kurdisches Zentrum in Paris. Zu einer Gedenkkundgebung fuhr Çankaya, um sein Beileid zu bekunden: »Die (türkische) Regierung verübt auch Morde gegen das eigene kurdische Volk«, zog er dort einen Vergleich. Diese Kritik an der Regierung findet sich in seiner Akte. Doch ebenso wird behauptet, an der Trauerveranstaltung in Paris hätten auch Mitglieder »terroristischer Organisationen«, wie etwa der syrisch-kurdischen YPG teilgenommen. Es gebe jedoch weder Bild- noch Tonaufnahmen. Die Anklage soll sich laut Çankaya ausschließlich auf den schriftlichen Bericht eines dort anwesenden Spitzels für den türkischen Staat stützen, bekam jW zu verstehen.

Alle drei Anklagen beziehen sich somit auf legale, politische Tätigkeit des österreichischen Staatsbürgers in der EU. Am 29. Januar erklärte die türkische Staatsanwaltschaft, ein Verfahren einzuleiten. Am 13. Februar wurde Çankaya verhaftet. Aus der Anklage ebenfalls ersichtlich: Aktuell sind rund 500 in Europa lebende Personen im Visier der türkischen Staatsanwaltschaft und seien bedroht, erklärt Çankaya. Auf sie soll Druck ausgeübt werden. Die Liste war dem Anwalt einsehbar: »Jeder hat Angst, weil jeder die Hälfte der Familie in der Türkei hat«, meint Aydın Sarı, stellvertretender Vorsitzender der Frei-Aleviten gegenüber jW. Auch deshalb will Çankaya am 18. März zum ersten Prozesstag in die Türkei reisen: »Wir konnten für Çankaya die Arbeit machen, aber es gibt so viele Menschen, die keine Lobby haben«, erklärt Turak. Gleich was am 18. März passiert, Sari gibt sich kämpferisch: »Wir haben nie den Mund gehalten und werden das auch in Zukunft nicht tun.«

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