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Aus: Ausgabe vom 05.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Türkei

Im alten Trab

Türkei: Neue CHP-Spitze wollte alles anders machen. Vor den Kommunalwahlen ist davon nichts zu merken
Von Emre Şahin
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Der CHP-Vorsitzende Özgür Özel auf einer Parteiversammlung in İstanbul (5.1.2024)

Kemal Kılıçdaroğlu hat sich sein eigenes Grab geschaufelt: Nachdem er die Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan verloren hatte, bestand der langjährige Vorsitzende der kemalistischen CHP ohne jede Selbstkritik auf einem Weiter-so-wie-bisher. Kılıçdaroğlu prangerte zwar die »Einmannherrschaft« Erdoğans an, praktizierte aber gleichzeitig eine »Light Version« davon innerhalb der CHP. Seine Ignoranz – er hatte aus Sicht der Opposition nicht nur irgendeine Wahl verloren, sondern eine historische Chance verpasst und die Menschen ihrer Hoffnungen beraubt – musste schließlich zum Vatermord führen.

Eine Gruppe aus »Erneuerern« um den Abgeordneten Özgür Özel und Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu schaffte es auf dem Parteitag im November, Kılıçdaroğlu nach 13 Jahren als Vorsitzenden abzusetzen, obgleich er weite Teile der Parteistrukturen unter seine Kontrolle gebracht hatte. Seitdem hat der neue Parteichef Özel viel versprochen. Er wollte für einen neuen Politstil einstehen und Brücken bauen zu den Parteien, die Kılıçdaroğlus Kampagne unterstützt und sich nach der Niederlage von der CHP abgewandt hatten. Er kündigte erstmals Vorwahlen für die Kandidaten der Kommunalwahlen an, um so die parteiinterne »Demokratie« zu stärken. Und er versprach, die CHP werde die Bürgermeisterämter mehrerer Großstädte verteidigen. Nichts davon ist passiert, das letzte steht noch aus und wird sich am 31. März zeigen.

Es könnte schwierig werden. Bei den Kommunalwahlen vor fünf Jahren konnte sich die CHP noch der Unterstützung der rechten Iyi-Partei sowie der prokurdischen HDP (jetzt: Partei der Emanzipation und Demokratie der Völker, DEM) sicher sein. Bis auf wenige Ausnahmen wie in Mersin und Manisa schickt die HDP-Nachfolgerin DEM diesmal fast überall ihren eigenen Kandidaten ins Rennen, ebenso die Iyi. Vor allem in Istanbul, wo ein Kopf-an-Kopf-Rennen droht, können die auf diese Parteien fallenden Prozentpunkte entscheidend sein. Vor fünf Jahren gewann İmamoğlu nur dank dieser Stimmen gegen die AKP. Seine Amtszeit verlief nicht ohne Probleme. Vor allem sein Techtelmechtel mit AKP-nahen Journalisten und Auftritte in Provinzen der Schwarzmeerregion sorgten innerhalb der CHP-Anhängerschaft für Unruhe. Positiv angerechnet wird ihm hingegen das Vorgehen gegen die Korruption der Regierungspartei und das Verhindern des Kapitalprojekts »Kanal Istanbul«.

Ansonsten hat sich in der CHP mit dem Abgang Kılıçdaroğlus nicht viel verändert: Der Parteiapparat hat die Kandidaten erneut selbst bestimmt. Auf der Liste stehen weiterhin Namen wie Bolus Bürgermeister Tanju Özcan, der für rassistische Schikanen gegenüber Geflüchteten bekannt ist. Der Kandidat für Ankara-Mamak, Veli Gündüz Şahin, verbreitete kürzlich in sozialen Netzwerken ein Video, in dem er vor vermutlich geflüchteten Kindern steht und fragt: »Sind das nicht Iraker? Wenn diese Kinder einmal groß sind, werden sie für unser Land ein großes Problem werden. Sie müssen zurück nach Hause.« Die Menge um ihn herum applaudiert.

Für völliges Unverständnis – auch bei vielen CHP-Anhängern – sorgt der Kandidat für Hatay, der durch die Erdbeben vom 6. Februar 2023 am stärksten zerstörten Stadt: Lütfü Savaş. Dabei sagte Özel kurz nach seiner Wahl zum CHP-Vorsitzenden, seine Partei werde für Hatay eine »historische Entscheidung« treffen. Nach dem Erdbeben und den verheerenden Folgen, könne man nicht sagen, das Rathaus unter Kontrolle der CHP trage keine Schuld. »Jeder in dieser Stadt ist verantwortlich«, so Özel. Die Konsequenz: Mit Savaş darf derselbe Politiker, der seit 2009 zunächst für die AKP und anschließend für die CHP in Hatay regierte, ein weiteres Mal antreten, trotz seines Versagens vor und nach dem Erdbeben.

Hatay ist seit längerem eine regelrechte Geisel der AKP-Regierung: Erdoğan hatte kürzlich offen gesagt, die Stadt werde so lange keine staatlichen Hilfen erhalten, wie sie nicht von der AKP regiert werde. Der am 6. Februar veröffentlichte Bericht des Präsidiums für Strategie und Haushalt beweist, dass das keine reine Wahlkampfrhetorik ist: Ein Drittel aller zerstörten Gebäude in den betroffenen elf Provinzen liegen in Hatay, doch die Stadt erhält nur ein Sechstel der Hilfen. Gleichzeitig erklärte die Regierung im vergangenen Jahr 307 Hektar Land der Küstenprovinz zu »Risikogebiet«, wodurch Enteignungen und Gentrifizierung möglich gemacht werden. Laut CHP habe jedoch keine Alternative zu Savaş gefunden werden können, die Umfragen deuteten darauf hin, dass er erneut gewinnen würde. Selbst wenn das stimmen mag, zu welchem Preis? Erneut: ein Weiter-wie-bisher. Die CHP legt so den Menschen der Stadt, die eigenständig versuchen, wieder auf die Beine zu gelangen, Steine in den Weg.

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