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Aus: Ausgabe vom 28.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Gefällig divers

Nach Israel-Kritik auf der Berlinale drohen der Bundesjustizminister und der Berliner Kultursenator mit Konsequenzen
Von Stefan Ripplinger
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Liberales Minimum: Forderungen nach einem Waffenstillstand in Gaza bei der Berlinale-Eröffnungsgala (15.2.2024)

Lässt sich »weltfremd« steigern? Dann verdanken wir dem Berliner Kultursenator Joe Chialo die weltfremdeste Bemerkung seit langem. Die von ihm verurteilten israelkritischen Äußerungen auf der Berlinale erklärt er sich so: »Wir haben in der Kulturszene – insbesondere bei solchen Ereignissen – ein Publikum, was vielleicht nicht ganz so divers ist, wie man es selbst gerne sähe.« Wirklich? Die Berlinale, nicht divers genug? Zu viele Künstlerinnen auf einmal? Der US-amerikanische Regisseur Ben Russell sprach auf der Gala von einem »Genozid« in Gaza, der israelische Journalist Yuval Abraham von einer »Apartheid« im Westjordanland. Das nicht vorsortierte Publikum applaudierte nicht vorsortiert.

Nachdem auch noch auf einem Instagram-Kanal des Festivals der Slogan »From the River to the Sea« aufgetaucht war, droht Justizminister Marco Buschmann (FDP) strafrechtliche Konsequenzen an. Zur Erklärung: Der Slogan, der sowohl von Zionisten als auch von Antizionisten verwendet wird, lässt sich so auslegen, dass nur für die einen oder nur für die andern Platz wäre. Im ersten Fall ist er straffrei, im zweiten antisemitisch.

Es lässt sich gewiss nicht alles rechtfertigen, was aus der propalästinensischen Szene kommt. Mit Ulrike Meinhof ließe sich beispielsweise daran erinnern, auch die Politik der westeuropäischen Linken dürfe »nicht araberfreundlich im Sinne der Araber sein«, sondern müsse ihnen die »Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel abverlangen« (Konkret, 7/67). Doch die Hoffnung von Staat und Springer, sie könnten ein junges, internationales Publikum davon abhalten, sich über die Ereignisse in Gaza zu informieren, ist naiv. Und provinziell ist die noch immer vom Senator gehegte Vorstellung, Künstler und Künstlerinnen mit Hilfe einer Definition des Antisemitismus (IHRA) so lange zu sortieren, bis sie endlich »divers« sind, »wie man es selbst gern sähe«. Sogar ein Koautor der IHRA-Definition, Kenneth Stern, verglich diesen autoritären Missbrauch inzwischen mit dem McCarthyismus (Berliner Zeitung, 22.1.24).

Die derzeitige Kulturpolitik scheint auf einen aussterbenden Staatsbürger abzuzielen. Der pensionierte Studienrat auf dem Lande, der morgens die FAZ, abends die »Tagesschau« zur Kenntnis nimmt und prinzipiell keine Nachrichten duldet, die nicht zuvor von »Correctiv« geprüft worden sind, wird zweifellos begeistert davon sein, dass Staat und Justiz hinter Künstlerinnen und Künstlern her sind. Im Zeitalter der Globalisierung geht diese Politik aber an der jüngeren und vernetzten Bevölkerung vorbei.

Nehmen wir den Streit um die Behauptung, Israel begehe in Gaza einen Genozid. Sie steht und fällt mit dem Nachweis, dass Israel einen solchen Genozid beabsichtigt. Diese Absicht ist aber nicht schon damit widerlegt, dass Prof. Stephan Grigat im ZDF (31.1.2024) erklärt, die Israelis wollten doch nur die Hamas auslöschen. Seit wann werden offizielle Verlautbarungen für blanke Wahrheit gehalten? Haben sich nicht Staat und Springer echauffiert, wenn Wladimir Putin behauptete, er wolle die Ukraine entnazifizieren?

Es gibt klare Hinweise auf einen Genozid. Nicht nur die tatsächliche Kriegführung, die bislang beinahe 30.000 Tote und etwa 70.000 Verletzte, fast ausschließlich Zivilisten, gefordert und weit über die Hälfte der Gebäude Gazas zerstört hat, sondern auch wiederholte Erklärungen hochrangiger israelischer Politiker deuten auf ihn hin. Man nehme nur Verteidigungsminister Joaw Galants unselige Beschimpfung der Gegner als »menschliche Tiere«. Es ist eine Beschimpfung, die sich direkt in militärische Maßnahmen umsetzt. Das Nasser-Krankenhaus wurde am 15. Februar geräumt, indem die Armee mit Megaphonen auf arabisch »Raus, ihr Tiere« rief. Bei der Gelegenheit wurde ein wehrloser Gefangener mit drei Kugeln hingerichtet (Le Monde, 17.2.2024). Wer die Entrüstung über solche Greueltaten unterbinden will, heizt die Entrüstung nur an. Selbst Buschmann und Chialo werden noch erkennen, dass zwar eine Welt ohne Documenta und Berlinale vorstellbar ist, aber keine mehr, in der der Informationsfluss gestaut und in gefällig »diverse« Bahnen gelenkt werden kann.

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