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Aus: Ausgabe vom 02.03.2024, Seite 15 / Geschichte
Arbeiterbewegung

Schlag gegen die Kumpel

Vor 40 Jahren begann der britische Bergarbeiterstreik, der mit einer verheerenden Niederlage endete
Von Dieter Reinisch
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Die Regierung unter Margaret Thatcher wollte den Streik von Beginn an mit aller Macht zerschlagen (Rotherham, 1984)

Im Jahr 1979 übernahm die bald »Eiserne Lady« genannte Margaret Thatcher die Regierungsgeschäfte in Großbritannien. Mit ihrer Amtszeit wurde die Phase des Neoliberalismus eingeläutet. Thatcher sah sich zwei Gegnern gegenüber, deren Widerstand sie um jeden Preis brechen wollte: die Irish Republican Army (IRA) in Nordirland und die Gewerkschaften in Großbritannien, deren Macht sie schwächen musste, um ihr wirtschaftspolitisches Programm durchsetzen zu können. Im großen Bergarbeiterstreik konnte sie schließlich die Arbeiterorganisationen schlagen. In einem fast ein Jahr dauernden Arbeitskampf rang sie die Bergarbeitergewerkschaft und letztlich die gesamte britische Arbeiterklasse in ihrer Kampfkraft nieder. Es war eine Niederlage, von der sich die Linke, die Gewerkschaften und das britische Proletariat erst heute, 40 Jahre später, wieder zu erholen beginnen.

Nach einer Phase relativer Stabilität während des Zweiten Weltkriegs und in der frühen Nachkriegszeit erlebte die britische Kohleindustrie, die wie andere Bereiche der Wirtschaft 1947 verstaatlicht wurde, einen erheblichen Rückgang der Zahl der Beschäftigten. Von 700.000 Bergarbeitern im Jahr 1957 blieben 1970 nur noch 300.000, da immer mehr Öl zur Energieerzeugung eingesetzt wurde. Dann aber änderte sich die Situation: 1972 und 1974 streikten landesweit die Arbeiter und erkämpften sich einen enormen Reallohnzuwachs. Hintergrund war die internationale Ölkrise Ende 1973, durch die Kohle wieder zu einem nachgefragten Mittel der Stromerzeugung wurde.

Fünf Wochen Frist

Die langfristige Agenda der konservativen Regierung war die Privatisierung des Energiesektors. Ein erster Vorstoß zu großangelegten Schließungen im Jahr 1981 wurde abgebrochen, als sich wilde Streiks ausbreiteten. Die Regierung war zu diesem Zeitpunkt nicht auf einen Kampf vorbereitet. 1984 hatte sich diese Situation geändert. Mit Ian MacGregor hatte das National Coal Board (NCB) einen neuen Vorsitzenden. MacGregor kündigte Ende 1983 an, 20 Zechen zu schließen. Etwas später gab er ein umfassendes Schließungsprogramm bekannt. Die Frist bis zur endgültigen Stilllegung für manche Gruben betrug gerade einmal fünf Wochen. Als im März 1984 die Schließung von fünf Bergwerken ohne ordnungsgemäße Prüfung bekannt wurde, begannen in Yorkshire und Schottland Streiks. Nach einer Abstimmung wurde die Schicht vom 5./6. März in Cortonwood bestreikt. Rasch schlossen sich weitere Bergarbeiter in anderen Gebieten an.

Die Arbeitskämpfe wurden von der Bergarbeitergewerkschaft Union of Mineworkers (NUM) organisiert. Aufrufe zu einer landesweiten Abstimmung, so wie es die NUM-Tradition war, scheiterten daran, dass die Aktivisten der Meinung waren, dass kein Bergmann das Recht habe, zu entscheiden, ob ein anderer seinen Job verlieren sollte. Am 12. März rief die NUM einen nationalen Bergarbeiterstreik aus. Laut Angaben der BBC traten mehr als dreiviertel der verbliebenen 187.000 Bergleute des Landes in den Streik, um sich gegen die Zechenschließungen zu wehren, die einen Verlust von mehr als 20.000 Arbeitsplätzen bedeuteten.

Trotz oder wegen der großen Solidarität für die Kumpel weigerte sich Thatcher zu verhandeln – wie sie es schon während der IRA-Hungerstreiks 1981 getan hatte. Am 19. Juli 1984 bezeichnete sie die Bergarbeitergewerkschaft als »Feind im Inneren« und ließ verlauten, dass sie sich »dem Gesetz des Pöbels« nicht beugen werde. Statt dessen setzte sie auf Repression. Die Polizei wurde eingesetzt und musste die Streikposten angreifen. Bereits in den Monaten zuvor war es zu regelrechten Schlachten zwischen den Kräften des Staats und den kämpfenden Arbeitern gekommen. Das Resultat bis Ende des Jahres 1984: 8.000 Festnahmen, 2.000 Verletzte und drei Tote.

Der Oberste Gerichtshof entschied im Oktober 1984, dass der Streik der NUM illegal sei, weil er gegen deren eigene Regeln verstoßen habe. Dabei hatte der Oberste Gerichtshof Schottlands den Ausstand im Vormonat in Schottland für legal erklärt. In der Folge knickten die Gewerkschaften im März 1985 ein: Auf einer Delegiertenkonferenz stimmte eine knappe Mehrheit dafür, auch ohne eine neue Vereinbarung über die Schließungen an ihre Arbeitsstätten zurückzukehren. Obwohl die Bergarbeiter standhaft geblieben waren – die Streikbeteiligung lag weiterhin bei mehr als 80 Prozent –, erklärte die NUM am 3. März den Streik für beendet. Genau ein Jahr nach dessen Beginn kehrten die Kumpel am 5. März 1985 wieder in die Bergwerke zurück.

Umfassende Repression

Während des Streiks wurden 11.291 Personen festgenommen, 8.392 von ihnen angeklagt, hauptsächlich wegen Landfriedensbruchs, Behinderung der Polizei und Verkehrsbehinderung. Es gab einige schwerwiegendere Anklagen, etwa wegen Aufruhrs, die jedoch mangels Beweisen fallengelassen wurden. Mehrere hundert Bergleute wurden entlassen, oft, weil sie aufgrund relativ unbedeutender Vorwürfe festgenommen worden waren. Die größte Konfrontation zwischen Streikposten und der Polizei fand im Frühsommer 1984 in Orgreave in Yorkshire statt, als Arthur Scargill, der NUM-Präsident, verhaftet wurde. Im ganzen Land entstand ein Unterstützungsnetzwerk, angeführt insbesondere von den Women Against Pit Closures (Frauen gegen Zechenschließungen).

Die Ergebnisse des Streiks kamen einer »Entmachtung der Arbeiterklasse« gleich, wie der Historiker Robert Gildea feststellte. Der Bergarbeiterstreik von 1984/85 kann als der letzte große Kampf der organisierten Industriearbeiterklasse in Großbritannien angesehen werden. Die Niederlage im Arbeitskampf führte zur Deindustrialisierung, zur raschen Schließung von Gruben, zur Entlassung der Bergleute und zur sozialen Verelendung der Bergbaugemeinden, was sich bis heute auf die Politik auswirkt. Der Bergarbeiterstreik war die größte Niederlage für die Gewerkschaftsbewegung seit dem Zusammenbruch des Generalstreiks im Jahr 1926.

Die Zahl der britischen Arbeitskämpfe, die im Anschluss stattfanden, war äußerst gering. Erst im Sommer 2022 setzte wieder eine Streikwelle ein. Heute kämpfen in Großbritannien wieder Millionen von Lohnabhängigen für bessere Löhne und Arbeitsplätze. Getragen werden die Kämpfe aber nicht mehr vom Industrieproletariat, sondern von öffentlichen Bediensteten, Gesundheitsmitarbeitern und Arbeitern im öffentlichen Verkehr.

Achtung, Kommunisten!

Arthur Scargill, der kämpferische Präsident der britischen National Union of Mineworkers, macht aus seinen marxistischen Neigungen keinen Hehl. Während des 51wöchigen Bergarbeiterstreiks, der im vergangenen März scheiterte, bat er die Sowjets sogar um finanzielle Unterstützung. Kurz vor der Jahreskonferenz der Gewerkschaft letzte Woche in Sheffield hat der von Scargill dominierte NUM-Vorstand seine sowjetische Verbindung bekräftigt, indem er die Auswahl von 20 Bergleuten für den Besuch der Höheren Gewerkschaftsschule in Moskau im Herbst ankündigte. Die 20 sind Teil der zweiten NUM-Delegation, die an die sowjetische Schule geschickt werden soll. Sie werden einen vierwöchigen Kurs absolvieren, in dem der Schwerpunkt auf der Verbindung zwischen Sozialismus und Arbeiterbewegung liegt.

Die überwältigende Mehrheit der Delegierten zeigte auch die Abneigung vieler Bergleute gegenüber der konservativen Regierung von Premierministerin Thatcher und dem National Coal Board. Sie stimmten einem Antrag zu, der Gewerkschaftsführung für die Organisierung des katastrophalen Streiks zu gratulieren, und nahmen eine Regeländerung vor, die es Scargill ermöglicht, auf Lebenszeit Präsident der NUM zu bleiben. Der britische Energieminister Peter Walker verurteilte das Vorgehen der Gewerkschaft und warnte: »Jeder Bergmann, der die Freiheit schätzt, die dieses Land bietet, und nicht den Wunsch hegt, Großbritannien in einen kommunistischen Staat zu verwandeln, sollte erkennen, worum es bei der Bergarbeiterkonferenz geht.«

Time Magazine, 15. Juli 1985

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