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Aus: Ausgabe vom 02.03.2024, Seite 5 / Inland
Kapital will »Entlastungen«

Kein Rezept gegen Krise

Wirtschaftslobby fordert vom Kanzler einschneidende Maßnahmen zur Standortsicherung. Fragt sich nur, wer das bezahlen soll
Von Klaus Fischer
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Wahlkampfplakat mit Kommentar: Jetzt greifen Lobbyisten die Idee des unbekannten Sprayers auf (Berlin, 3.9.2021)

Nach seiner jüngsten Gehaltserhöhung um 1.381 Euro monatlich musste Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Freitag wieder hart arbeiten. In München stellte er sich den Chefs der vier wichtigsten Wirtschaftsverbände, einer Lobby, die zunehmend ungeduldiger wird. Die hatte im Vorfeld des jährlichen Treffens am Rande der Handwerksmesse in einem gemeinsamen Zehn-Punkte-Programm klargemacht, dass sie von der Bundesregierung schnelles Handeln erwartet. Der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, die Deutsche Industrie- und Handelskammer und der Zentralverband des Deutschen Handwerks sind sich einig: Unter den sich verschlechternden Standortbedingungen können die meisten angeschlossenen Unternehmen und Betriebe nicht mehr profitabel arbeiten – ein Todesurteil im Kapitalismus.

Wen wundert es?

Auch wenn es manche Politiker noch nicht bemerkt haben: Deutschland steckt in einer tiefen Krise. Wirtschaft aus dem Tritt, die Gesellschaft tief gespalten und der Staat ohne Rezept gegen das zum großen Teil selbstverschuldete Desaster. Nach der jahrelangen Friedhofsruhe zwischen Kapital und Regierung, der Coronakrise und der sich verschärfenden Konkurrenzsituation auf den Weltmärkten hielten es Regierung und größte Oppositionspartei 2022 für angebracht, das Land in einen derzeit noch asymmetrisch geführten Krieg gegen Russland zu führen. Das Resultat: Rohstoffe wurden knapp und teurer, die Inflation nahm Fahrt auf, die Energieversorgung gestaltete sich zunehmend kritisch, die Strompreise mutierten zum Profitkiller – insbesondere nach gleichzeitiger Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke. Wen wundert es dann, dass die Lobbyisten finanzielle Entlastungen fordern?

Die Wirtschaftsverbände fordern international konkurrenzfähige Strompreise, eine grundlegende Steuerreform mit niedrigeren Unternehmenssteuern, schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren, weniger Bürokratie, Investitionen in die Infrastruktur, eine ausreichende Fachkräftesicherung sowie Strukturreformen in allen Bereichen der Sozialversicherung. Dies alles sei nötig, »um Vertrauen zurückzugewinnen und den Standort Deutschland zu stärken«, heißt es in der Wunschliste.

Fragt sich nur, wer soll das bezahlen? Fakt ist, die Regierung hat kein Geld mehr. Und neue Schulden zu machen, fällt der »Ampel« nach einem Urteil der Verfassungsrichter schwer. Ein paar Ideen haben die Verbände indes angedeutet: Sozialausgaben kürzen, oder das Mindestrentenniveau von 48 Prozent aufheben – das die Regierung eigentlich festschreiben will, denn im Vergleich zu vielen EU-Staaten ist das bereits sehr niedrig. Wie also Wirtschaft auf Trab bringen ohne sozialen Kahlschlag?

Scholz hat keine Idee, aber ein dickes Fell: Wie gewohnt kanzelte er nach dem Spitzengespräch die Forderungen ab: Man habe ja bereits viele Reformen angestoßen. Die Wirtschaftslobby solle nicht jammern, sondern »Zuversicht« verbreiten. Es helfe nicht, »wenn ganz viele Lobbyisten und Politikunternehmer die Stimmung im Land verschlechtern«, so der Kanzler. Und erneut verwies er auf das geplante Wachstumschancengesetz, das Steuererleichterungen für Unternehmen bringe. Dumm nur, dass dies im Parteiengerangel feststeckt. Auch die Energieversorgung sei gesichert und die Energiewende werde vorangetrieben.

»Die Stimmung ist schlecht«

Ein erfolgversprechender Dialog sieht anders aus. Handwerkspräsident Jörg Dittrich wagte dann auch zu widersprechen: »Das reicht bei weitem nicht«, so der Cheflobbyist. »Die Stimmung in den Betrieben ist schlecht.« Immerhin muss man dem Kanzler zugute halten, dass er erneut – gegen die Stimmung der Mainstreammedien und der meisten Parteien im Parlament – sein Bekenntnis wiederholte, keine »TAURUS«-Marschflugkörper an die Ukraine liefern zu wollen. Auf dpa-Nachfrage sagte er, »dass das zu diesem Zeitpunkt nichts ist, was wir zur Verfügung stellen können«. Das sei eine Entscheidung, »die ich als Kanzler getroffen habe und zu der ich auch genauso stehe.«

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  • Leserbrief von Eric Wörner aus Vaihingen (3. März 2024 um 11:04 Uhr)
    In einem Nebensatz impliziert Klaus Fischer – nicht zum ersten Mal – einen Zusammenhang zwischen günstigem Strom und Atomkraft. Weiß der Autor etwa immer noch nicht, dass Atomstrom die teuerste aller Erzeugungsarten ist? Die Abschaltung der drei letzten deutschen AKW hat den Strom mitnichten verteuert, das Gegenteil wäre der Fall. Atomstrom ist dermaßen unwirtschaftlich, dass ihn nicht mal mehr die Betreiber haben wollen. Hinzu kommt, dass Atomstrom entgegen der landläufigen Meinung auch nicht CO2-neutral ist. Natürlich ist das in Lebenszyklusanalysen kein einziger Energieträger, aber Atomkraft liegt hier bei einem Vielfachen der CO2-Bilanz von PV- oder gar Windstrom. Ich teile die Einschätzung, dass für eine konkurrenzfähige Industrie der Strom als Grundstoff aller Produktion günstig sein muss. Mit Kernkraft erreicht man aber das genau Gegenteil dessen, es sei denn, die versteckten Mehrkosten werden, wie in der Vergangenheit, von der Gesellschaft und nicht von der Industrie selbst getragen.