junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Montag, 29. April 2024, Nr. 100
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 02.03.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
»TAURUS«-Debatte

Die »TAURUS«-Inszenierung

Drei Monate vor den EU-Wahlen will Olaf Scholz zwar weiter die Ukraine mit Waffen vollstopfen, aber um fast keinen Preis deutsche Marschflugkörper liefern
Von Arnold Schölzel
3-online.jpg
Hin und her: Bundeskanzler Olaf Scholz auf dem Luftwaffenstützpunkt Jagel (16.6.2023)

Dresden am Donnerstag abend: Im »Stromwerk – Kulturarena Kraftwerk Mitte« sitzen rund 150 Leute, die an einem »Kanzlergespräch« mit Olaf Scholz teilnehmen. Veranstaltungen dieser Art finden seit 2022 in allen Bundesländern statt, dies ist die zwölfte. Das Wort »Gespräch« schreibt das Kanzleramt in Großbuchstaben. Es geht friedlich zu, Überraschungen sind nicht vorgesehen, es sei denn, Scholz will für eine sorgen. Das gelingt ihm beim mehrfach angesprochenen Thema Ukraine-Krieg und Lieferung des deutschen Marschflugkörpers »TAURUS«: Er lehnt das noch deutlicher als bisher ab. »Zeitenwende«-Ende? Zunächst hört sich das nicht so an, es gibt die seit zwei Jahren gewohnte Haudraufrhetorik. Auf der Internetseite des Kanzleramts liest sich das so: »Als ein Mann ihn in Dresden auf das Thema anspricht, sagt der Kanzler, er ärgere sich. Nicht über die Frage, sondern darüber, dass in der Diskussion oft vergessen werde, was Deutschland alles für die Unterstützung der Ukraine leiste. Finanziell und auch militärisch. Unterstützung im Wert von 28 Milliarden Euro seien geliefert oder zugesagt.« Falls die USA ausfallen, werde es so sein, »dass Deutschland das meiste tut«. Im übrigen: »Wir« haben als »erste schwere Panzer zusammen mit den USA« geliefert, »als erste Mehrfachraketenwerfer mit großer Reichweite zusammen mit den USA und Großbritannien«.

Irgendwo in Moskau

Bei »TAURUS« aber (»die gar nicht die größte Zerstörungskraft hat, ein ›MARS‹-Raketenwerfer kann viel mehr«) setzt Scholz im zweiten Teil seiner Antwort fort, handele es sich um eine Waffe mit einer Reichweite von 500 Kilometern (laut Herstellerangabe allerdings »mehr als 500 Kilometer«), »die, wenn sie falsch eingesetzt wird, ein konkretes Ziel irgendwo in Moskau erreichen kann«. Dem erstmaligen Aufblitzen geographischer Kenntnisse bei diesem Thema, setzt Scholz hinzu: Deshalb sei es so, »dass – ich formuliere das mal in aller diplomatischen Abstraktheit – auch andere Sorge dafür getragen haben, dass sie genau wissen, wo was landet«. Am Montag hatte Scholz das auf der dpa-Chefredaktionskonferenz in Berlin noch konkret formuliert: »Was an Zielsteuerung und an Begleitung der Zielsteuerung von seiten der Briten und Franzosen gemacht wird, kann in Deutschland nicht gemacht werden.« Das bezog sich auf die von Großbritannien an Kiew gelieferten Marschflugkörper »Storm Shadow« und die französischen »SCALP«.

In Dresden fuhr Scholz fort, im Falle Deutschlands würde dies bedeuten, dass man sich mit Personal an dem Einsatz von »TAURUS« beteiligen müsse. »Das wiederum halte ich für ausgeschlossen«, das sei die Begründung, warum er glaube, dass es gegenwärtig für eine Lieferung keinen Anlass gebe. Zugleich wiederholte der Regierungschef, es werde keine deutschen oder NATO-Soldaten in der Ukraine geben. Die bereits entsandten Soldaten, von denen er selbst gesprochen hatte, zählen da offenbar nicht. Vielleicht aber für Moskau. Das hatte am 19. Januar berichtet, bei einem russischen Raketenangriff auf Charkiw seien etwa 60 ausländische Söldner getötet worden, darunter viele Franzosen.

In Dresden jedenfalls wird aus dem »Zeitenwende«-Kanzler ein Hin-und-Her-Kanzler. Ist auch nötig: Laut einer Forsa-Umfrage lehnen 56 Prozent der Wähler »TAURUS«-Lieferungen nach Kiew ab, und bundesweit dümpelt die SPD irgendwo bei 15 Prozent.

Von Montag bis Donnerstag hatte Scholz mit seiner »TAURUS«-Rhetorik einschließlich Fußtritten für Paris und London die Schlagzeilen beherrscht. Die Reaktionen waren entsprechend. Das Handelsblatt schrieb am Freitag von »Wut« in Paris und London, weil Scholz »öffentlich über geheime Aufgaben von französischen und britischen Soldaten im Ukraine-Krieg gesprochen« habe. Die Zeitung zitierte den früheren britischen Verteidigungsminister Ben Wallace: »Das Verhalten von Scholz hat gezeigt, dass er für die Sicherheit Europas der falsche Mann ist.« Der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen polterte am selben Tag in der Neuen Zürcher Zeitung, der Kanzler stecke in der Sackgasse. Über sein wahres Motiv – mit Moskau verhandeln und darum »TAURUS« nicht liefern zu wollen – könne Scholz öffentlich nicht sprechen: »Sein Ausweg ist, den Deutschen Angst vor einem Krieg zu machen. Das bietet zudem die Möglichkeit, sich als Friedenskanzler zu inszenieren. Dass er dafür falsche Behauptungen aufstellt, unsere engsten Verbündeten brüskiert und Putin in die Hände spielt, nehmen er und die führenden Sozialdemokraten hin. Ein absoluter Tiefpunkt.« Bereits am Mittwoch hatte das britische Verteidigungsministerium verschnupft reagiert und ließ einen Sprecher in The Telegraph lügen: »Der Einsatz von ›Storm Shadow‹ durch die Ukraine und seine Zielverfahren sind Sache der ukrainischen Streitkräfte.«

Alles gesagt?

Am Freitag ließ es sich Scholz nicht nehmen, die britische Kritik öffentlich zurückzuweisen. Er erklärte in München noch einmal: »Ich werde keine Entscheidung unterstützen, bei der es darauf hinausläuft, dass deutsche Soldaten irgendwie in einen militärischen Einsatz im Zusammenhang mit dem furchtbaren Krieg Russlands gegen die Ukraine verwickelt werden.« Auf dpa-Nachfrage setzte er hinzu, er habe sich bereits in der Vergangenheit zum Einsatz von »TAURUS« erklärt und seine Position deutlich gemacht: »Das ist eine Entscheidung, die ich als Kanzler getroffen habe und zu der ich auch genauso stehe.« Es müsse verhindert werden, dass es zu einer Eskalation des Krieges, zu einem Krieg zwischen Russland und der NATO komme: »Darüber bin ich mir auch mit all meinen Freunden in Europa und den USA und anderswo einig. Und deshalb ist alles zu diesem Thema gesagt, was zu sagen ist.« Prognose: Gilt immer bis zur nächsten Wahl.

Hintergrund: Bunkerbrecher

Der »TAURUS« (Target Adap­tive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System) KEPD-350 (Kinetic Energy Penetrator and Destroyer) wurde in den 90er Jahren von einer deutsch-schwedischen Gemeinschaftsfirma entwickelt. Der Marschflugkörper – Gesamtgewicht etwa 1.400 Kilogramm mit einem Flugzeugtriebwerk – wird, so die Bundeswehr, »zur Bekämpfung wichtiger Ziele über große Entfernung verwendet«. Im allgemeinen wird die Reichweite mit mehr als 500 Kilometern angegeben, am 3. August 2023 sprach Vizekanzler Robert Habeck öffentlich von 600 Kilometern. Der Gefechtskopf durchschlägt im Zusammenwirken selbst stark gehärtete Ziele, zum Beispiel Bunkeranlagen oder Führungsgefechtsstände. Der Spiegel nannte »TAURUS« im August 2023 »die Waffe, die Stockwerke zählen kann«: In mehrstöckigen Bunkern kann der Sprengkopf gezielt in einem bestimmten Geschoss zur Explosion gebracht werden.

Durch vier voneinander unabhängige Navigationssysteme findet der Luft-Boden-Lenkflugkörper sein Ziel laut Bundeswehr, für die rund 600 »TAURUS« zum Stückpreis von einer Million Euro angeschafft wurden, »sehr zuverlässig«. Da er in weniger als 50 Metern Höhe fliegt und über Umwege gelenkt werden kann, ist er schwer abzufangen. Die niedrige Flughöhe wird durch spezielle Geodaten ermöglicht. 2010 machten das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und Airbus mit Hilfe von zwei Satelliten Aufnahmen der Erdoberfläche und erstellten ein digitales Höhenmodell der Erde, das »TAURUS« nutzt, um tieffliegen zu können. Das wurde damals mit 300 Millionen Euro vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert – die Datensätze zur militärischen Nutzung wurden später wiederum für 475 Millionen Euro Steuergelder von Airbus und dem DLR eingekauft. Wie genau dieser Datensatz ist, geht aus Veröffentlichungen nicht hervor. Auf jeden Fall, so die Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen im September 2023, erscheint es »wenig realistisch«, dass er per USB-Stick übergeben werden kann. IMI weiter: »Falls die Daten in irgendeinem Rechenzentrum des DLR oder von Airbus in Deutschland liegen, wäre die Sache deutlich heikler. Dann müsste dem ukrainischen Militär hier ein Zugang gegeben werden oder eben deutsches Personal selbst eingebunden werden. In beiden Fällen würde man damit einer unmittelbaren deutschen Kriegsbeteiligung deutlich näher kommen.« Zugleich wies IMI darauf hin, dass offen ist, ob »TAURUS« unter das Raketentechnologiekontrollregime, kurz: MTCR, fällt – einem Teil »der internationalen Bemühungen, die Verbreitung von Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen über die Einschränkung von Trägersystemen zu verhindern. Mit der Lieferung von ›TAURUS‹ würde sich ganz nebenbei auch von diesen Bemühungen abgewendet.« (as)

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Peter S. aus Berlin (2. März 2024 um 11:59 Uhr)
    Nanu? In der ganzen jW kein Hinweis oder Bericht zu dem abgehörten Planungsgespräch von Bundesluftwaffenchef und Offizieren zum Taurus-Einsatz gegen die Krimbrücke? Ja gut, in der Druckausgabe (Fertigstellung Freitagabend) könnte ich das noch halbwegs nachvollziehen, aber auf der Webseite bis 2.3. 12.00 nichts? Was ist los, liebe Redaktion?

Ähnliche:

  • Der Krieg soll unbedingt weitergehen: Der britische Premier Suna...
    13.01.2024

    Milliarden und mehr

    Großbritannien: Premier kündigt »Sicherheitsgarantien« für Ukraine an. Waffen in großem Umfang vermisst
  • In wenigen Wochen kommen die »modernisierten« Atombomben: Fliege...
    28.10.2022

    Neue Bomben für Büchel

    USA ziehen Stationierungstermin auf Dezember 2022 vor. Russische Informationen über mögliche »schmutzige Bombe« Kiews lösen im Westen Hektik aus
  • Die BRD nur ein Vasallenstaat der USA? US-Außenminister John Ker...
    20.01.2015

    Imperium Americanum

    Die Herrschaft des US-Imperialismus ist erdumspannend. Stabil ist das nicht. Kursorisches zur Weltlage

Mehr aus: Schwerpunkt