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Aus: Ausgabe vom 01.03.2024, Seite 16 / Sport
Sportpädagogik

»Der Schulsport ist in einer Sackgasse«

Über Sportunterricht in der DDR und in der Bundesrepublik. Ein Gespräch mit Albrecht Hummel
Von Andreas Müller
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Schulsport in einer Polytechnischen Oberschule 1972 in Karl-Marx-Stadt (seit 1990 wieder Chemnitz)

Es klingt wie ein Treppenwitz der Sporthistorie. Der 1759 in Quedlinburg geborene Pädagoge Johann Christoph Friedrich GutsMuths gilt als Erfinder der Körper- und Bewegungserziehung. Doch im schulischen Alltag wird sie hierzulande vernachlässigt.

Diese Entwicklung ist so paradox wie traurig. GutsMuths gilt als Schlüsselfigur für dieses Gebiet mit ganz unterschiedlichen Bezeichnungen wie Gymnastik, Turnen, Leibesübungen, Leibeserziehung oder körperliche Ertüchtigung. Was er dazu schrieb, wurde weltweit übersetzt. Was er zu seiner Zeit in einer Art Privatschule in Schnepfenthal in Thüringen praktizierte, wurde international nachgeahmt. Er sorgte für Initialzündungen und wurde dafür vom sogenannten Turnvater Jahn, der ihn in Thüringen besuchte, geschätzt und respektiert. Allein sein Buch, in dem er erklärt, wie man Schwimmen lernt, ist in der ganzen Welt bekannt. Er wäre vermutlich fassungslos, müsste er mit ansehen, wie schlecht es heute bei uns um die Schwimmfähigkeit von Kindern und Schülern steht.

Sie haben an der Technischen Universität Chemnitz gelehrt und gemeinsam mit Arno Zeuner, der von 1967 bis 1993 an der Pädagogischen Hochschule Zwickau Sportlehrer ausbildete, jüngst das Buch »Körperliche Grundbildung« vorgelegt. Darin wird die über 200jährige Geschichte des sportlich-körperlichen Lernens in ihren Grundlinien nachgezeichnet. Sie verweisen darin auch auf Brüche, die sogenannte Wende scheint so eine Zäsur gewesen zu sein.

Unbedingt, selbstverständlich. Brüche und Widerstände begleiteten diese »Erfindung« von Beginn an. Es dauerte bis 1842, ehe an Knabenschulen in Preußen erstmals so etwas wie ein Sportunterricht Einzug hielt. Die entsprechenden Lehrer nannte man damals Turnphilologen. Der Staat hatte ein solches Fach als nützlich für die Arbeits- und Wehrfähigkeit erkannt und ebenfalls für die Sicherung der Gebärfähigkeit, so dass es ab Ende des 19. Jahrhunderts auch für Mädchen angeboten wurde. Besondere Erwähnung gebührt der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin-Spandau (Dhfl), die 1920 gegründet wurde und bis 1935 bestand. Durch die Dhfl bekam die körperliche Grundausbildung einen großen Schub, erstmals wurden sportwissenschaftliche Grundlagen und Konzeptionen, auch für Ausbildung von Lehrkräften, festgeschrieben. Gerade die Methodik dieses besonderen Fachs bis hin zu Verletzungsgefahren, die es bei manchen Übungen vorzubeugen gilt, rückte später in der DDR ganz besonders in den Fokus. Zunächst mit dem Turnbeschluss von 1955 – inklusive der verpflichtenden Gründung von Schulsportgemeinschaften – und dem Bildungsgesetz von 1965 erhielt die sportliche Grundausbildung einen vorher nie gekannten Stellenwert. Es entstand ein ganzes System mit Instituten für Körpererziehung, bzw. Sektionen für Sportwissenschaft, die sich in verschiedenen Facetten zugleich der Schulsportforschung widmeten. Ein Wissenschaftsverbund, der in der BRD bis heute nicht wieder erreicht wurde.

In Ihrem Buch widmen Sie jeweils ein Kapitel der »körperlichen Grundausbildung in der sozialistischen Schule der DDR« und dem »1989er Sportlehrplan der DDR«.

An der Akademie der pädagogischen Wissenschaften war ich von 1989 bis zum Herbst 1990 der letzte Leiter der »Arbeitsstelle für Körpererziehung«. Ich erinnere mich noch genau, wie wir Ende der 80er Jahre in Zinnowitz, Ahrenshoop und Binz an der Ostsee große Konferenzen zum neuen Sportlehrplan abhielten und dieses Konzept mit größter Wertschätzung auch von Teilnehmern aus der Bundesrepublik bedacht wurde. Nach dem Mauerfall war davon nichts mehr übrig. »Bei uns nicht praktikabel«, »nicht anschlussfähig« hieß es plötzlich. Fast war es jenen, die zuvor aus dem Westen Beifall geklatscht hatten, peinlich, dass sie mich kannten. Man ging gründlich auf Distanz. Das Ergebnis sehen wir heute. Der Schulsport befindet sich in einer Sackgasse, ist nur noch Anhängsel und von internationalen Entwicklungen komplett abgehängt. Das gilt nicht nur unter quantitativen Aspekten, wenn drei Sportstunden pro Woche nur auf dem Papier stehen und dieser massenhafte Gesetzesverstoß nicht einmal geahndet wird. Was übrigens ebenfalls für die gesetzlich verbriefte Pflicht gilt, in den Schulen »Anfängerschwimmunterricht zu erteilen«. Hinzu kommen die qualitativen Mängel. Es fehlt an qualifizierten Lehrkräften. Es fehlt auf Hochschulebene an Personal, das Lehramtsstudenten gut ausbildet. Das sind riesige Defizite und fatale Fehlentwicklungen.

Zum Glück blenden die PISA-Studien den Sportunterricht aus …

Das Ergebnis wäre vermutlich verheerend. Genau darum wurde meines Wissens seitens der Bundesrepublik gezielt verhindert, dass neben den Fähigkeiten der Schüler in Mathematik, Lesen und Schreiben oder naturwissenschaftlichen Fächern auch das Sportfach mit untersucht wurde.

Warum wurde das Fach Sport in der DDR besonders gepflegt? Weil es das Fundament einer ambitionierten Leistungssportnation bildete?

Man muss ehrlicherweise sagen, dass durchgehend nur die Klassenstufen vier bis sechs in den Genuss von wöchentlich drei Sportstunden kamen. Bei allen anderen Klassen waren zwei Wochenstunden Standard. Ergänzt von den Angeboten der Schulsportgemeinschaften, die an jeder Schule Pflicht waren und ebenfalls von richtig gut ausgebildeten Sportlehrern geleitet wurden. Es gab für Heranwachsende sogar Sportfördergruppen, also eine Art Nachhilfeunterricht, wenn das beispielsweise aus medizinischer Sicht geboten schien. Als dieses einheitliche System Mitte der 60er Jahre etabliert wurde, hatte noch niemand die leiseste Ahnung davon, dass 1972 in München Olympische Spiele ausgetragen werden würden. Dieser Zusammenhang wäre meines Erachtens zu weit hergeholt. Die starke Hinwendung zum Sport resultierte aus der Erkenntnis, dass man damit nicht nur in den Fußstapfen von GutsMuths wandelt, sondern sich mit Hilfe des Sports als kleines Land ebenfalls nach außen profilieren könnte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die knallharten Vorausscheide für die gemeinsamen deutsch-deutschen Olympiamannschaften von 1964 und 1968 und die enorme Konkurrenz der beiden Staaten in dieser Phase.

Der Schulsport als »Zubringer« für den Spitzensport?

Diese Sicht wäre zu einfach. Dem standen allein die ständigen Reibungen zwischen Bildungsministerin Margot Honecker und Manfred Ewald als dem wichtigsten Sportfunktionär in der DDR entgegen. Er wollte unbedingt den Sonnabendunterricht abschaffen, um so für Kinder und Jugendliche mehr Raum für sportliche Wettkämpfe an Wochenenden zu ermöglichen. Sie lehnte das konsequent ab. Was an allen Schulen stattfand, waren regelmäßige Talentsichtungen. Da schauten zumeist Sportstudenten ein- oder zweimal im Jahr nach Kindern, die sich in bestimmten Disziplinen durch besondere sportliche Leistungen hervortaten. Für sie stand dann der Weg offen, an eines der Trainingszentren delegiert zu werden, in denen als Vorstufe zu den Kinder- und Jugendsportschulen rund 70.000 Kinder trainierten. Bei alldem handelte es sich eher um ein indirektes Beziehungsgeflecht zwischen Schule und Leistungssport.

Im demnächst zu erwartenden »Entwicklungsplan Sport« sollen einige Passagen auch dem Schulsport gewidmet sein. Was müsste in dem Papier der Bundesregierung unbedingt drinstehen?

Mir wäre vor allem wichtig, dass mit dem Ausbau der Ganztagsschule bildungspolitisch nicht die akuten Mängel im Sportunterricht gegeneinander ausgespielt werden. Ich plädiere für gute Sportangebote beim »Ganztag«. Doch sie dürfen keinesfalls ein Sparmodell für den Unterricht sein. Diese Angebote dürfen kein Ersatz für den gesetzlich verankerten Sportunterricht sein, wo er ausfällt oder gar nicht mehr angeboten wird.

Albrecht Hummel, geboren 1949, ist Sportwissenschaftler und war von 1993 bis 2014 Professor für Sportpädagogik und Sportdidaktik an der Technischen Universität Chemnitz. Er hat kürzlich mit Arno Zeuner das Buch »Körperliche Grundbildung. Theorie. Geschichte. Prozess« (Arete-Verlag) veröffentlicht

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