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Aus: Ausgabe vom 01.03.2024, Seite 15 / Feminismus
Geschlechtsspezifische Gewalt

Rechenschaft gefordert

Türkei: 68 Femizide seit Jahresbeginn, acht innerhalb kürzester Zeit
Von Ina Sembdner
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Kampf dem Patriarchat: Protest in Istanbul zum Tag gegen Gewalt an Frauen am 26. November 2023

Um den Nachrichten über »acht Femizide in zwei Tagen« ein Ende zu setzen, ruft die türkische Plattform »Wir werden Frauenmorde stoppen« (KCDP) am Sonntag zu einer Kundgebung in Istanbul-Kadıköy auf. »Wir werden Rechenschaft für die Hunderten von Frauen fordern, die im Kampf für ein freies Leben getötet wurden. Wir werden die Ära der Beamten beenden, die ihrer Pflicht nicht nachkommen, derjenigen, die eine frauen­feindliche Politik verfolgen, und derjenigen, die Frauen in vier Wände einsperren wollen«, hieß es in einer Mitteilung vom Mittwoch.

Zuvor waren Sevilay Karlı und Tuba Ateşci von ihren Exmännern ermordet worden; Hatun Aslan, Elif Saydam und Özlem Çankaya von ihren Ehemännern, von denen sie sich trennen wollten; Emine Ülkü Araz und Nasim Gol Karimi von Ehepartnern und Dilan Özdemir von ihrem Vater. Saydam war bereits am 19. Februar von ihrem aus dem Gefängnis geflohenen Ehemann angeschossen worden und erlag neun Tage später ihren Verletzungen. Insgesamt beläuft sich nach Zählung von KCDP die Zahl der Femizide in der Türkei in diesem Jahr auf 68. Im vergangenen Jahr wurden mindestens 315 Frauen durch Männer ermordet, 248 Frauen starben unter verdächtigen Umständen.

Die Organisation nimmt explizit den türkischen Staat ins Visier, dessen Präsident Recep Tayip Erdoğan sich auch der sogenannten Istanbul-Konvention zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt 2021 per Dekret entledigt hat. »In jeder Minute, in der Unterhaltszahlungen, das Gesetz Nr. 6284 («Schutz der Familie und Verhütung von Gewalt gegen Frauen», jW) und unsere Bürgerrechte von der politischen Macht diskutiert werden, werden weiterhin Frauen getötet«, schreibt KCDP. Ein weiteres Problem ist die Justiz, die Täter meist davonkommen lässt. Türkische Gerichte sind wiederholt in die Kritik geraten, weil sie dazu neigen, Straftäter zu milden Strafen zu verurteilen. Die Rede ist dann von Taten »aus Leidenschaft«.

Eine Studie aus 2022 von Güneş Koç, die 1.000 Femizide in der Türkei in den Jahren 2010 bis 2017 untersucht hat, kommt wenig überraschend zu dem Schluss, dass die Mehrheit der Täter intime Verbindungen zu den Getöteten hatten. Makroanalytisch betrachtet, lassen sich die Motive »als Widerstand der Frauen gegen die Vorherrschaft der Männer« interpretieren; »ihre Forderung nach Kontrolle über die Frauen eskaliert in der Ermordung der Frau als eine Form der Gegenreaktion«, so Koç.

Auch wenn es aussichtslos scheint, gibt die linke DEM-Partei den Widerstand nicht auf. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gülistan Kılıç Koçyiğit erklärte am Mittwoch im Parlament in Ankara: »Wir schreien der frauenfeindlichen AKP, dem Männerstaat und der Männerjustiz ins Gesicht: Egal was passiert, wir geben einander und unsere Rechte nicht auf! Wir verstärken unseren Kampf für die Freiheit der Frauen!« Eingereicht wurde ein Antrag für eine parlamentarische Untersuchung, um alle Arten von Gewalt gegen Frauen zu verhindern.

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