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Aus: Ausgabe vom 01.03.2024, Seite 12 / Thema
China

Das eurasische Drehkreuz

Vorabdruck.Reise in das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang
Von Moritz Hieronymi, Beijing
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Rote Fahnen neben Minaretten. Das Zentrum von Ürümqi, Hauptstadt des Uigurischen Autonomen Gebiets Xinjiang im Nordwesten Chinas

Wir dokumentieren im folgenden eine redaktionell leicht gekürzte Reportage, die in Heft 3/2024 der Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei Die Linke erscheinen wird. Wir danken Autor und Redaktion für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck. Das Heft kann über kpf@die-linke.de bestellt werden. (jW)

Über den dicht verzweigten Straßen der Altstadt Macaus ragen die Ruinen der São-Paulo-Kirche empor. Diese Jesuitenkirche war einst der Prachtschmuck der portugiesischen Kolonisatoren, die im 16. Jahrhundert die Inseln Taipa (in Chinesisch: Dangzai) und Coloane (Luhuan) im Delta des Perlflusses unter ihre Kontrolle brachten. Mit Hilfe der Aufnahme diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen gelang es Portugal unter König Manuel I. nach Jahrzehnten der Verhandlungen, dem chinesischen Kaiserreich die Gebiete des heutigen Macaus abzuringen. Lissabon hatte dieses Gebiet als einen geeigneten Umschlagplatz für die in Europa begehrten Waren aus Fernost ausgemacht. Um jedem Konflikt mit dem Ming-Kaiser vorzubeugen, wurde das Reich der Mitte angemessen an den Geschäften beteiligt. Mit dem Niedergang Portugals wurden die Zahlungen spärlicher und blieben irgendwann ganz aus – dennoch hielt Lissabon an seinem Pachtland fest.

Von der einstigen Größe der portugiesischen Krone ist heute neben dem Kolonialviertel und dem barocken Portal der São-Paulo-Kirche wenig übriggeblieben. Das Fatum der Geschichte hat ausgerechnet die Krypta der vormals größten katholischen Kirche in China unbeschadet belassen. Ein brachialer Glasbau führt heute in die Katakomben, wo die Gebeine christlicher Märtyrer, meist chinesischer Provenienz, der Öffentlichkeit zur Schau gestellt werden.

Zurecht könnte sich der Leser fragen, wieso dieser Beitrag über die zentralasiatische Region Xinjiang an einem der südlichsten Punkte der Volksrepublik China beginnt. Bietet es sich von Macau nicht eher an, Überlegungen über die keine 1.000 Kilometer entfernte Insel Taiwan, die die Portugiesen Formosa – die »Schöne« – tauften, anzustellen? Welche Rolle kommt Xinjiang zu, wenn die Strategen aus Washington und Beijing doch längst die Hohe See als Schlachtfeld einer möglichen Konfrontation ausgemacht haben?

Als im Jahr 1999 Macau der Volksrepublik China übergeben wurde, endete nicht nur eines der letzten Kolonialregime der Welt, sondern auch die Herrschaft des weißen Mannes über China. Seither verschieben sich die geopolitischen Kräfteverhältnisse mit gravierenden Folgen. Auch der für den BRD-Mainstream über jeden Zweifel erhabene Politologe Herfried Münkler kam kürzlich zu dem Schluss: Diejenigen, »die glaubten, die bisherige Weltordnung sei wiederherstellbar, lägen falsch«.¹ Die US-Hegemonie hat ihr Ende erreicht, während sich eine alternative Ordnung noch nicht herauskristallisiert hat. Die Folgen sind Friktionen in den verbliebenen internationalen Institutionen und Konflikte, denen vermehrt mit militärischen Mitteln begegnet wird.

Dieses Interim ist von einer Konfrontationsgefahr zwischen Washington und Beijing geprägt, weswegen dem indopazifischen Raum eine herausgehobene Bedeutung beigemessen wird. Dennoch scheint eine direkte Konfrontation der beiden Supermächte aufgrund der unkon­trollierbaren Risiken gegenwärtig unrealistisch. So hatte der einstige US-Generalstabschef Mark A. Milley darauf hingewiesen, dass die Folgen eines amerikanisch-chinesischen Krieges, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall des gegenseitigen Verzichts auf den Einsatz nuklearer und biochemischer Waffen eintrete, allein aufgrund der dichtbesiedelten Pazifikregionen in den USA und China katastrophal wären.²

Stellt man sich in Washington eigentlich die Frage, wie es zur einer solch unkomfortablen Lage gegenüber China kommen konnte? Mehr als 50 Jahre, nachdem US-Präsident Richard Nixon Mao Zedong besucht hatte, ist der letzte Veteran und Architekt der US-Annäherung an die Volksrepublik, Henry Kissinger, gestorben. Nur wenige der Gäste seiner Totenmesse werden daran Anstoß genommen haben, dass dieser Mann die Ermordung Hunderttausender Zivilisten in Lateinamerika und Asien zu verantworten hatte, wohl vielmehr daran, dass seine China-Politik dem Aufstieg des Reichs der Mitte erheblichen Vorschub leistete. Während die Sowjetunion bereits unter der ideologischen und wirtschaftlichen Sklerose der Breschnew-Ära litt, verfolgten damals die USA die alte Weisheit: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Und schon Napoleon hatte gewusst: »China ist ein schlafender Löwe, lasst ihn schlafen! Wenn er aufwacht, wird er die Welt verrücken!« Nunmehr stehen die USA vor der Aufgabe, den von ihnen gekitzelten Löwen zu bezwingen, indem sie einen beispiellosen Wirtschafts- und Medienkrieg führen.

Währenddessen steht China vor gravierenden Herausforderungen. Erstmalig in ihrer Geschichte muss die Führung des Landes sich zu einer Generation verhalten, bei der die eigene Karriere Vorrang vor der Gründung einer Familie hat. Die Gesamtbevölkerung schrumpft. Zugleich wächst die Zahl der 25 Millionen Muslime innerhalb der Volksrepublik. Die westlichen Nachbarn Chinas erleben derweilen ein nationalistisches Aufbegehren, von dem die Proteste von 2022 in Kasachstan erst der Beginn waren. »Xinjiang wird dir noch Kopfschmerzen bereiten«, warnte einst Stalin seinen chinesischen Konterpart, Mao Zedong.

In den Fernen Westen

Das Zugpersonal schaut irritiert, als es den »Wei Guo Ren« – den »Ausländer« – in der Schlange zur Ticketkontrolle für den Zug nach Ürümqi, der Provinzhauptstadt von Xinjiang, erblickt. Im Vorfeld hatten chinesische Freunde wenig begeistert auf meinen Plan reagiert, in das Uigurisch Autonome Gebiet zu reisen. Zu weit weg, Kommunikationsschwierigkeiten, vielleicht nicht ungefährlich. Und was willst du da überhaupt? Dass ich beabsichtigte, den Zug zu nehmen, ließ sie vollends an meinem Verstand zweifeln. Schließlich würde die Zugreise von 2.800 Kilometern Strecke nicht nur mehr als 30 Stunden dauern, sondern weckte auch traumatische Erinnerungen: Im Jahr 2014 war es in der Hauptstadt der Südprovinz von Yunnan, Kunming, zu einem Terroranschlag gekommen. Neun Personen hatten im Zentralbahnhof Fahrgäste mit Macheten angegriffen. Während dieses Massakers starben 31 Menschen, 143 wurden verletzt. Kunming war nur der Kulminationspunkt einer Serie von Anschlägen des uigurisch geprägten Islamismus. Zwischen 1990 und 2016 kam es zu mehreren tausend Terroranschlägen, bei denen das Massaker von Ürümqi mit 197 Toten und mehr als 1.700 Verletzten den traurigen Höhepunkt darstellte.

Der Passagierzug ist ausgebucht. Die überwiegende Anzahl der Mitreisenden ist schwer bepackt; die braun-gegerbte Haut weist auf einen Arbeiterhintergrund hin. Diese von westlichen Medien so bezeichneten »Wanderarbeiter« sollen entrechtet und teilweise versklavt ihrem Schicksal ausgeliefert sein. Dabei unterschlagen dieselben Medienanstalten, dass sich in den vergangenen neun Jahren die chinesischen Durchschnittsreallöhne verdoppelt haben. Ebenso fehlt jede Berichterstattung über die Abkehr vom quantitativen und die Hinwendung zum qualitativen Wirtschaftswachstum seit dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. Die Konsequenzen dieser Beschlüsse werden sichtbar, je weiter der Zug ins Landesinnere fährt. In den Provinzen Shanxi und Shaanxi haben die Kleinstädte ihren Charme aus der Mao-Ära noch nicht verloren. Die beigefarbenen Mietskasernen, die sich in den Mittelgebirgslandschaften drängen, sind in die Jahre gekommen. Unweit dieser kümmerlichen Siedlungskomplexe sind neue Wohnviertel gebaut worden. Entlang der Bahnstrecke ragen 20stöckige Gebäude in die Landschaft. Diese im Entstehen begriffenen Stadtviertel werden plangemäß an das Autobahn- und Bahnnetz angeschlossen. Neue Krankenhäuser, Schulen und Stadien entstehen.

Zum Spätnachmittag füllt sich der Speisewagen. Entgegen der unzumutbaren Versorgung der Deutschen Bahn wird hier frisch gekocht und ein überraschend schmackhaftes Mahl serviert. Zum Essen gibt es Bier. Die Flachmänner, gefüllt mit »Roter Stern« – eine beliebte Marke des in China weitverbreiteten Hirse-Schnaps (Baijiu) –, gehen herum. Die Stimmung ist ausgelassen. Ein junger Mann aus Tianjin bietet sich mir als Übersetzer an. Er stammt aus einer Han-Familie, die seit der dritten Generation in Xinjiang lebt. Der Großvater wurde nach seiner Demobilisierung am Ende des Koreakrieges in die Westregion versetzt. Dieses Schicksal trägt eine große Anzahl chinesischer Veteranen des Koreakriegs, die zu den Pionieren der uigurischen Provinz werden sollten. Beispielhaft steht hierfür das Großprojekt der über 2.000 Kilometer langen Lanzhou-Schienenlinie durch den Hexi-Korridor³, wodurch Beijing mit der uigurischen Hauptstadt Ürümqi verbunden wurde. Heldenhafte Leistungen bei Temperaturen von bis zu minus 30 Grad Celsius im Winter und über 40 Grad Celsius im Sommer.

Geostrategisches Experimentierfeld

In diesen Zeiten hatte es aber auch hinsichtlich der Nationalitätenpolitik weitreichende Veränderungen gegeben. Nach Jahrhunderten rassistischer Diskriminierung der Minderheitenvölker von Xinjiang hatte Mao Zedong die Pekinger Funktionäre zum Ende des Han-Chauvinismus aufgefordert. Die Kaderpolitik der regionalen KP-Organisationen wurde angepasst und die Provinzministerien wurden mit Angehörigen der unterschiedlichen Volksgruppen besetzt. Prominentestes Beispiel ist Saifuding (auf Uigurisch: Seypidin Aziz), uigurischer Separatist und Bildungsminister der kurzlebigen zweiten ostturkestanischen Republik⁴, der in die Reihen der KP aufgenommen und mit ministerialen Funktionen ausgestattet wurde.

Zum 70. Geburtstag Stalins im Dezember 1949 reiste Mao Zedong mit einer uigurischen Delegation nach Moskau. Der Grund für diese Zusammensetzung der Delegation ist heute fast in Vergessenheit geraten, er sollte vergessen werden.

In den 1930er Jahren, während des Höhepunkts des chinesischen Bürgerkriegs, schloss die sowjetische Xinjiang-Handelsgesellschaft (Sovsintorg) mit der lokalen Regierung von Xinjiang einen Kreditvertrag zur Finanzierung von Infrastruktur, zur Erschließung unterschiedlicher Ressourcen und zum Bau von Militäreinrichtungen und Krankenhäusern in Höhe von fünf Millionen Rubel ab. Der Ausbau eines Netzes von Niederlassungen und sowjetischen Handelsvertretungen wurde nötig und führte dazu, dass die Sowjetunion de facto administrative Befugnisse in allen Städten in Xinjiang ausübte.

In den folgenden Jahren erzeugte die Paral­lelität zwischen sowjetischen und lokalen Strukturen ein Machtvakuum in Ürümqi. Rassistische Übergriffe gegen die Minderheiten und soziale Unruhen führten zum Ausbruch der Hami-Rebellion.⁵ Nachdem sich die Rebellen gegen sowjetische Einrichtungen und Staatsbürger gerichtet hatten, sah sich Moskau veranlasst, militärisch zu intervenieren. Mit Unterstützung der Guomindang, den Feinden der Kommunistischen Partei Chinas, ging die Sowjetunion siegreich aus dem Konflikt hervor und bildete mit den Nationalisten ein informelles Kondominium über Xinjiang. Ab Mitte der 1930er Jahre verloren die Chinesen zusehends an Einfluss über die Region. Die Sowjetunion hatte ihre wirtschaftliche Potenz in Xinjiang genutzt, um direkten Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. Beispielhaft steht hierfür die Berufung von Stalins Schwager, A. S. Swanidse, zum Wirtschaftsberater in Ürümqi.

Ab 1940 verfolgte die UdSSR eine mehrgleisige Strategie: Zum einen unterstützte sie die offizielle nationalistische Lokalregierung unter Sheng Shicai. Zum anderen förderte sie separatistische Bewegungen bei der Errichtung der Zweiten Republik Ostturkestan. Dieses Vabanquespiel führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Mit der Niederlage der Guomindang gegen die Kommunisten in den Jahren 1948/49 erhob Mao Zedong Ansprüche auf Xinjiang. Eine KP-Delegation sollte in der selbstproklamierten Republik Ostturkestan über die Wiedereingliederung verhandeln. Dazu kam es nicht. Ein Hinterhalt der Guomindang forderte den Tod aller Delegierten. Unter den Opfern war der kommunistische Diplomat Mao Zemin, der jüngere Bruder des Staatsgründers der Volksrepublik China. Das sowjetische Katz-und-Maus-Spiel sollte erst enden, als Mao Zedong der UdSSR exklusive Abbaurechte für Erdöl, Uran- und Beryllium-Erze in Xinjiang zubilligte. Ein Handel, der äußerst nachteilig für China ausfiel. Es scheint daher nicht verwunderlich, dass die erste und einzige persönliche Zusammenkunft zwischen Mao und Stalin unterkühlt verlief.

Erst Ende der 1950er Jahre wurden die Verbindungsbüros der Firma Sovsintorg endgültig geschlossen. Zuvor war es zu einem Eklat zwischen Mao und Chruschtschow gekommen, als Letzterer fragte, ob Mao wirklich die Sowjetunion als roten Imperialisten betrachte. Die Antwort, die weder in das eindimensionale Schema mancher Linker noch in das bürgerlicher Historiker passt, lautete: »Da war ein Mann namens Stalin, der nahm uns Port Arthur und verwandelte Xinjiang und die Mandschurei in Halbkolonien (…). Das waren alles seine guten Taten.«⁶ Jahrzehnte später, mit der Öffnung der sowjetischen Archive, sollte sich herausstellen, dass selbst nach der Gründung der Volksrepublik China die Sowjetunion ihre Rauminteressen über Xinjiang nicht aufgegeben hatte. So war bis zu Stalins Tod in Planung, den Bürgern von Xinjiang vereinfacht die sowjetische Staatsbürgerschaft zu erteilen sowie die Ressourcenausbeutung produktiver voranzutreiben.

Die Geschichte lebt

Am Morgen des nächsten Tages fährt der Zug in die bezirksfreie Stadt Jiuquan in der Provinz Gansu ein. Die letzte Station vor Xinjiang befindet sich in einer Halbsteppe. Jiuquan hat internationale Berühmtheit erlangt, seit hier ein Kosmodrom errichtet wurde, von dem die Mehrzahl der »Shenzhou«-Raketen für den Bau einer chinesischen Raumstation gestartet wird. Während die Touristenscharen das chinesische Baikonur bestaunen, nutze ich den Kurzstopp, um die Grabstätte des legendären Heerführers Huo Qubing zu besuchen.

Um 100 v. u. Z., während der westlichen Han-Dynastie, litt das kurzzeitig zweigeteilte chinesische Reich unter wiederholten Überfällen und Brandschatzungen durch die Xiongnu, die mutmaßlichen Vorgänger der Hunnen. Der junge General Huo hatte entgegen allen militärischen Doktrinen mit Hilfe einer Nadelstichtaktik – kurze Vorstöße und Terrorisierung der Zivilbevölkerung – die Barbaren wirksam eindämmen können. Die Grabstätte für den an der Pest verstorbenen General ist mit einem kitschigen Denkmal aus Sandstein versehen, das den Geehrten in der Mitte von Soldaten und Bauern zeigt. Der martialisch aussehende Huo macht zwischen den ergebenen Blicken des Volkes einen anachronistischen Eindruck. Vielleicht drückt sich hierin auch die Sorge über das Kommende aus. Schließlich wurden aus den Barbarenstämmen die Horden, denen die Kriegsherren Dschingis Khan und Tamerlan entstammen. Im Jahr 1271 ließ sich der Mongole Kublai Khan zum chinesischen Kaiser ausrufen. Aufgrund der Verwandtschaft des Kublai Khans mit dem Herrscher des Tschaghatai-Khanats⁷ wurde Xinjiang faktisch aufgegeben. Erst 500 Jahre später konnte der Qing-Kaiser Qianlong erfolgreich die Gebiete zurückerobern.

Seither gehört die Region ununterbrochen zu China. Die islamisch geprägte Bevölkerung besteht aus Uiguren, Kasachen, Kirgisen, Hui, Mongolen, Xiben, Russen, Tadschiken, Usbeken, Tataren, Manchu und Dachuren. Die Uiguren stellen, anders als behauptet, keine ethnische Einheit dar. Der ethnonymische Begriff »Uigure« ist eine von den Chinesen verwendete Fremdbezeichnung für verschiedene Stämme in Zentralasien. Es galt lange Zeit als strittig, ob es sich bei den Uiguren um eine ethnische oder politische Zugehörigkeit handelte. Diese Zweifel wurden erst 1921 auf dem Ersten Gesamttürkischen Kongress in Taschkent beseitigt. Auf Druck Sowjetrusslands wurde damals unter Bezugnahme auf Stalins Nationalitätenpolitik den Uiguren der Volkscharakter zugebilligt. Dabei erscheint es äußerst fragwürdig, worin sich die Uiguren wegen ihres Taranqi-Dialektes von den anderen Erben der Köktürken unterscheiden sollen.

Vor dem Himmlischen Gebirge

Mit der Einfahrt in die autonome Provinz verändert sich die Landschaft schlagartig. Die schon vorher kahle Steppe ist einer Wüste gewichen. Ausschließlich der schmale Korridor zwischen den tibetischen und mongolischen Plateaus macht die Durchfahrt in der ansonsten lebensfeindlichen Umgebung möglich. Die zehnstündige Fahrt durch diese Mondlandschaft und durch endlose Baumwollplantagen endet in der Provinzhauptstadt Ürümqi. Die Gebirgslandschaft des Tian Shan (Himmelsgebirge) erstreckt sich unweit der uigurischen Metropole und schafft ein beeindruckendes Panorama. Dieser Gebirgszug trennt das Reich der Mitte von der einstigen Sowjetunion.

In der kleinen Provinzhauptstadt, so die Worte des Taxifahrers, leben 1,6 Millionen Menschen. Der erste Eindruck hinterlässt ein positives Bild von einer modernen und sauberen Stadt, die sich hinsichtlich ihrer Quirligkeit kaum von den Provinzstädten des Südens unterscheidet. Mit dem Besuch des Großen Basars ändert sich mein Eindruck: eine Touristenmeile, an deren Ständen überteuerter Nippes dargeboten wird, wobei, zu meiner Überraschung, das händlertypische Feilschen verpönt ist.

In dieser sino-orientalischen Kulisse sticht ein Militärcheckpoint hervor. Auf einem gepanzerten Fahrzeug stehen zwei Han-Soldaten, ihre Typ-95-Sturmgewehre mit aufgepflanztem Bajonett im Anschlag. Es bedarf keiner großen Vorstellungskraft, wie es einem deutschen Fernsehteam in den Fingern jucken würde, dieses Bild in der Totalen aufzunehmen. Dabei erinnern diese schmächtigen Soldaten eher an die Wachmannschaften vom Platz des Himmlischen Friedens. Im Allgemeinen erscheinen die Sicherheitsvorkehrungen denen in Beijing ähnlich. Beschränkungen oder gar Kontrollschikanen muss ich zu keinem Zeitpunkt zu erdulden. Im Gegenteil. Auf dem Internationalen Flughafen von Ürümqi fällt der laxe Umgang mit den Sicherheitsvorkehrungen auf – obwohl zu diesem Zeitpunkt die 19. Asienspiele in Hangzhou stattfinden.

Die endlose Steppe

Nachdem sich das kleine Passierflugzeug über den Tian Shan gemüht hat, erstreckt sich die endlose Steppe der zentralasiatischen Republik Kasachstan unter uns. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer chinesischen Rechtsanwältin, die auf meine Frage, ob Taiwan im Vergleich zu Xinjiang nicht das kleinere Problem sei, mit Unverständnis antwortete: »Wir hatten immer Probleme in dieser Region, aber wir haben es jedes Mal wieder hinbekommen. Xinjiang gehört zu China.« In der Sowjetunion wird man wohl nicht minder selbstbewusst über die zentralasiatischen Republiken gesprochen haben, deren islamo-nationalistische Wiederbelebung mit großrussischer Überheblichkeit abgetan wurde. Dabei ist Xinjiang aufgrund seiner geographischen Lage, des Ressourcenreichtums und der militärischen Bedeutung eine der Schlüsselregionen im eurasischen Großraum. Mithin von strategischer Wichtigkeit für die Vereinigten Staaten von Amerika.

Im Jahr 2018 hatte Oberst a. D. Lawrence Wilkerson, ehemaliger US-Stabschef in Afghanistan, eingeräumt, dass einer der drei Hauptgründe der Afghanistan-Besetzung – an Xinjiang angrenzend – in der Eindämmung der Volksrepublik China bestand.⁸ Da diese Strategie jedoch nicht aufgegangen sei, müsse China, so Lawrence, von innen statt außen destabilisiert werden. Dafür könnte die CIA Unruhen unter den Uiguren organisieren, um Druck auf Beijing zu erzeugen. Nach diesem Affront waren die westlichen Medien darauf bedacht, die Aussagen des Obersts als bedauerliche Einzelmeinungen oder gar als Fake News aus Beijing abzutun. Gleichzeitig blieb die Berichterstattung über Vorkommnisse in Xinjiang auffällig tendenziös. Grundsätzlich werden dortige Polizeimaßnahmen als unbegründet dargestellt, wird die Existenz von Konzentrationslagern behauptet⁹, während uigurische Terroristen als solche nicht benannt bzw. in Anführungszeichen gesetzt werden.

In Anbetracht dieser geopolitischen Lage fragt sich, ob die schwadronierenden »Experten« in Washington, London, Brüssel oder Berlin sich überhaupt im Klaren sind, was sie mit ihrer verantwortungslosen Politik anrichten. Ist ihnen denn nicht bewusst, dass sie die Lunte an ein Pulverfass halten, das die gesamte Welt ins Chaos stürzen könnte?

Anmerkungen

1 Deutschlandfunk, 17.1.2024

2 How to Avoid a Great-Power War, Foreign Affairs Podcast, 2.5.2023, https://t1p.de/Milley

3 Der »Hexi-Korridor« ist ein schmaler, langgestreckter Landstreifen in Xinjiang, zwischen dem Kunlun-Gebirge im Süden und dem Tian-Shan-Gebirge im Norden. Der Begriff »Hexi« bedeutet »westlich der Pässe« und bezieht sich auf die historische Bedeutung als Durchgangsroute entlang der Seidenstraße. Diese Region spielte eine zentrale Rolle als Handels- und Kulturweg während der Ära der historischen Seidenstraße, aufgrund seiner strategischen Lage als Hauptverbindungsweg zwischen China und dem westlichen Teil des Kontinents.

4 Die Zweite Ostturkestanische Republik erstreckte sich geographisch über den Nordwesten der Region Xinjiang. Diese unabhängige Republik, die von Uiguren und anderen muslimischen Gruppen beansprucht wurde, existierte von 1944 bis 1949.

5 Soziale Aufstände in der Region Hami (Kumul) – später die großen Teile von Xinjiang – von 1931 bis 1934 führten zur Unabhängigkeitsbewegung unter Führung verschiedener Sufi-Orden.

6 Cold War International History Project Bulletin, 12/13, 2001, S. 254, https://t1p.de/CWIHP

7 Das Tschaghatai-Khanat war ein zentralasiatisches Khanat, das im 13. Jahrhundert gegründet wurde und ein Teil des Mongolischen Reiches war. Es erstreckte sich über Teile Zentralasiens.

8 What Is The Empire’s Strategy?, Ron Paul Institute, 22.8.2018, https://t1p.de/wilkerson

9 Vgl. Human Rights Foundation, What’s Happening In China’s Concentration Camps?, 13.4.2023, https://t1p.de/hrf

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Eike Andreas S. aus Buchholz in der Nordheide (1. März 2024 um 21:47 Uhr)
    Leider enthält der Artikel einen Fehler: So liegt der Hexi-Korridor nicht in Xinjiang, sondern in Gansu. Erst östlich von Dunhuang beginnt Xinjiang. Das nördliche Xinjiang wurde früher oft als Dsungarei bezeichnet – das Siedlungsbebiet der Dsungaren (auch Oiraten), die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hier herrschten und auch die Oberherrschaft über Tibet hatten. Unter den Dsungaren wurde in Tibet der Dalai Lama installiert. Der Name Xinjiang – chineisch für »neue Grenze« – wird erst seitdem benutzt. Dass Xinjiang dann nach 500 Jahren wieder »zurück«erobert werden konnte, ist eine typische chinesische Sichtweise auf die eigene Geschichte. Die Qing-Kaiser waren Eroberer aus der Mandschurei, also ein »Barbaren«-Volk aus dem Norden, das 1644 die Ming-Dynastie ablöste. Die Ming ihrerseits hatten 1369 die mongolische Yüan-Dynastie abgelöst. Diese Assimilierung der Eroberer (teilweise auch nur von Teilen des oftmals in verschiedene Reiche zersplitterten Chinas) ist bis heute ein Wesensmerkmal der chinesischen Geschichte. Die größte westliche Ausdehnung hatte China im Jahr 751, als der chinesische General der Tang-Dynastie, Gao Xianzhi, gegen die vorrückenden Truppen der muslimischen Expansion in der Schlacht am Talas (nördliches Kirgisistan) unterlag. Mittelasien und das westliche China wird auf den imperialistischen Karten des 19. Jahrhunderts als »Russisch-Turkestan« und »Chinesisch-Turkestan« bezeichnet. Im »Great Game« des 19. Jahrhunderts ging es zwischen den imperialistischen Mächten um die Zerschlagung Chinas und die Verhinderung eines Vormarschs des zaristischen Russlands an den Indischen Ozean. Die Zerschlagung Chinas war gemeinsames Interesse aller imperialistischer Staaten (vor USA, England, Russland). Die Verhinderung eines russischen Vormarschs an den Indischen Ozean war vor allem das britische Interesse. Heute stehen wir erneut vor einem »Great game«.

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