junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 11. / 12. Mai 2024, Nr. 109
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 01.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Die Zukunft, aus dem Morgen betrachtet

Menschen gegen Mär: Vor 30 Jahren starb der Schriftsteller Gert Prokop
Von Tim Meier
Prokop_Gert_2_online.jpg

Wer von Gert Prokop sprechen will, muss sich beschränken. Zu vielfältig ist sein Werk, um es umfassend zu würdigen. Das Talent des 1932 bei Stralsund geborenen und lange beim Film und im Journalismus tätigen Autors wurde erst 1971 entdeckt. Da ermittelte der »Detektiv aus dem 21. Jahrhundert«, Timothy Truckle, in »Der Tod der Unsterblichen« in seinem ersten Fall. Es war der Beginn einer Reihe, die geschickt Krimi, Science-Fiction und Marxismus verband und die Leser auf eine Reise in die Vereinigten Staaten des dritten Jahrtausends schickte: Der Nation ist von der restlichen, sozialistischen, Welt eine Art antifaschistische Käseglocke übergestülpt worden – die undurchdringliche »Isolation«. Die Diktatur des Kapitals ist dort noch für die sozialdemokratischsten Leser offenkundig. Daraus lässt sich lernen. Zum Beispiel, dass selbst in den »Nighted States«, wie der Volksmund die USA nach dem Abfall der Südstaaten sowie der totalen Überwachung durch die NSA nennt, trotzdem Widerstand möglich ist: Truckle ist nicht nur Superdetektiv der allmächtigen »Bigbosse«, sondern gleichzeitig Kundschafter für den revolutionären »Underground«.

Weitere kurze Erzählungen folgten mit Prokops »Phantastischen Geschichten«, »Die Phrrks« (1989) und »Null minus unendlich« (1990). Die sind weniger kriminalistisch, aber nicht weniger utopisch. Ob nun die kleinen blauen Männchen aus Omas Radio die Welt übernehmen wollen, Friedensgespräche zwischen den Osterinseln (Osterhasen) und Weihnachtsinseln (Weihnachtsmänner) geführt werden oder sich auf einer bilateralen Weltraummission von UdSSR und USA eine homosexuelle Liebe entspinnt, man findet in den Werken ein gerütteltes Maß an Komik, Tragik, Zukunftsirrsinn, aber vor allem Optimismus und Lebenslust. Prokop wusste, dass noch die beste Science-Fiction dem vorherrschenden Stand der Produktivkräfte verhaftet bleibt – die Vorstellung der Zukunft verändert sich mit den gegebenen Möglichkeiten, man denke an die Millenniumillustrationen aus dem 18. oder frühen 19. Jahrhundert. Die gesellschaftliche Entwicklung, die Prokop im Sozialismus selbst erlebte, bestärkte ihn darin, den Fortschritt der Menschheit nicht als einen rein technischen, sondern als einen humanistischen darzustellen. Der kapitalistischen Mär von der animalischen »Natur des Menschen« stellt er den »sozialistischen Menschen« – kurz: Menschen – entgegen.

Von den Auswirkungen des Imperialismus auf den einzelnen handelt Prokops Roman »Das todsichere Ding« (1986). Dem nicht unbedingt charmanten, aber klugen und ehrgeizigen Informatiker Herbert wird im Frankfurt am Main der 1980er das »bürgerliche Glücksversprechen«, Wohlstand gegen (komplexe) Arbeit, nicht erfüllt. Er war am Rande vom Strudel der Studentenunruhen und somit von den »nie vergessenden, unleugbaren« Datenbanken des bundesdeutschen Sicherheitsapparates erfasst worden. Das bedeutet statt eines stattlichen Gehalts die Bedeutungs- und fast Obdachlosigkeit. Um dem zu entgehen und doch noch schnell zu Wohlstand zu gelangen, widmet sich Herbert der Cyberkriminalität. Von den Extraprofiten der Banken und Großkonzerne soll auch etwas für ihn und seine mittellosen Freunde abfallen. Prokop wusste aus der DDR um die Möglichkeiten der digitalen Datenverarbeitung – und wie das Kapital dieses damals neuen Produktionsmittel für seine Profite und Machterhaltung im bürgerlichen Staat nutzen wird. Mehr Welthaltigkeit geht nicht.

Vom Siechtum durch eine unheilbare Krankheit bedroht, nahm sich Gert Prokop am 1. März 1994 das Leben.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Mehr aus: Feuilleton