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Aus: Ausgabe vom 01.03.2024, Seite 10 / Feuilleton
Popgeschichte

Westeuropa Sohn

Poète maudit aus dem Ramschladen: Zum Tod des genialischen Popmusikers Kiev Stingl
Von Maximilian Schäffer
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Wirrkopf, Sexist, Phantom: Kiev Stingl 1991 in seiner Berliner Arbeitsbibliothek

»Ab sofort verbiete ich, Kiev Stingl, der Sprecher der deutschen Schweinenation, sämtlichen Jugendlichen, Staatsnegern und sonstwem, den Keuchakt loszuficken.«

Kiev Stingl (15.3.1943 bis 20.2.2024), Präsident im Reich der Träume, spricht in Zungen

In der 1-Euro-Kiste vor dem Laden fand ich ihn, 2020. Unterste Bückware zwischen Volksmusik und Kinderhörspiel. Nicht einmal ins Abteil »Deutsch« hatten sie ihn gepfercht, noch ins Fach »NDW« verramscht. »Kiev Stingl – Hart wie Mozart« prangte auf dem Cover, das aussah wie eine Ausgabe des Spiegel von 1979. Geiler Name, geiler Titel. Wieso will den keiner, kennt den keiner? Ich legte den Euro auf den Tisch, und staunte noch mehr, als ich es zum ersten Mal hörte: »Es lebe die Sowjet­union, nieder mit dem Zar! (…) Ich bin Frank Sinatras Westeuropa Sohn!« Unbestreitbar eine Hymne, dazu erstklasssig aufgenommen und produziert. Diese Stimme aus Ethanol, Nikotin und Testosteron, die 40 Minuten lang nur Sex raunzt. Und hätte ich hundert Euro bezahlt gehabt – sowas hatte ich von der BRD nicht erwartet.

Kiev hingegen hatte von der BRD nichts zu erwarten. Seine Karriere versaute er gründlich und notwendigerweise aus purem individuellen Drang. Eine einzige Tournee versenkte er in allen möglichen Drogen. Im Hessischen Rundfunk rabulierte er gegen Feministinnen, warf Bierflaschen nach dem Aufnahmeleiter (siehe obiges Zitat). Nach Rock und Art-Punk wollte er auf einmal Disco machen, danach Post-Industrial mit der Hälfte der Einstürzenden Neubauten. Er sah gut aus und klang ebenso gut, hätte das Zeug gehabt, dem braven Genuschel eines Udo Lindenberg die Selbstverständlichkeit der eigenen Geilheit im Dienste von mindestens zwei Generationen Punks entgegenzusetzen. Das Messianische allerdings pflegte er eher im Halbprivaten, wollte lieber ein Phantom sein als Legende – so predigte er es mir noch letztes Jahr zu seinem 80. Geburtstag im Interview. Auch Raubtiere – Kiev Jaguar Stingl nannte er sich kurz selbst – sind die meiste Zeit nur scheue Katzen.

Achim Reichel fand Stingl Mitte der 70er Jahre in Hamburg genauso unvorbereitet, wie ich ihn später in Berlin wiederfand. Im abgedunkelten Zimmer drosch er ihm was auf der Gitarre vor, von »Lila Lippen, Milchkuhtitten!« In seiner Autobiografie »Ich hab das Paradies gesehen« erzählt Reichel von diesem Damaskuserlebnis und seinen Folgen. Drei Alben fertigten sie zusammen: »Teuflisch« (1975), »Hart wie Mozart« (1979) und »Ich wünsch den Deutschen alles Gute« (1981). Reichel, der selbst als Solomusiker sowie mit den Rattles um ein Vielfaches erfolgreicher war als sein unmöglicher Star, hielt Stingl für genial, aber unberechenbar. Die Regisseure Klaus Wyborny, Heinz Emigholz und Christel Buschmann drehten Filme mit Kiev. Letztere setzte ihn in Ballhaus Barmbek neben Christa Päffgen alias Nico – das reale Aufeinandertreffen zweier großer Phantome. Im lange schon verblichenen Kaufbeurer Verlag Pohl ’n’ Mayer erschien 1979 sein Lyrikband »Flacker in der Pfote«, fünf Jahre später »Die besoffene Schlägerei« im Cyrano-Verlag. Sein Alterswerk, ein Dialog aus passionierter Hitlerei und Bumserei, erscheint posthum. »Roman ist fertig!« – war sein letzter Satz auf Whats-App, dann hatte er keinen Bock mehr auf Siechtum.

Nun fehlt mir der Abstand, um für Zeitungsleser in glaubwürdigem Maße von der Großartigkeit seiner Musik berichten zu können. Natürlich kenne ich sie heute mantrisch auswendig – jeden Song, jede Zeile. Ich kann allerdings davon berichten, was passierte, als ich einst mein Umfeld mit Kiev Stingls Platten zu terrorisieren begann: keinerlei Widerstand. Innerhalb von Wochen bildete sich ein Privatfanclub aus Künstlern, Musikern, Autoren, Barkeepern und Handwerkern im Alter von 18 bis 60. In der Neuköllner Stammkneipe hängten wir bald sein Konterfei über den Tresen, direkt neben den gekreuzigten Messias. Der Chef, bald genervt: »Schon wieder Kiev!?« Aber auch solidarisch: »Wenigstens Kiev!« Wir waren nicht die einzigen, so fand ich heraus: Auch Flake von Rammstein, Dieter Meier von Yello und Hans Joachim Irmler von Faust zählen zu seinen ewigen Fans.

Irgendwann fand ich mich in Stingls Wohnung wieder. Ein junges, hübsches Mädchen brachte ich ihm mit, das war ihm noch lieber als Cremeschnitten – auch Vanessa sollte später seine Urinflaschen ausleeren. In den vergangenen beiden Jahren sah ich den Berserker deutscher Coolness, den »Einsam Weiss Boy« vom alten Mann zum Greis werden. Wir stritten kokett über Hitler, ich leerte die Pissflaschen aus. Er scheuchte mich durch die zugestellte Altbauwohnung, ich ließ es irgendwie über mich ergehen. In den zartesten Momenten zweier sich halbwegs nahe gekommenen Männer mit 50 Jahren Altersabstand saßen wir uns gegenüber, hatten uns nichts zu sagen übers Leben. »No Erklärungen« heißt ein 2020 erschienener kurzer Dokumentarfilm über ihn. Kiev wusste zuviel, ich noch zuwenig. Ein paar Minuten Stille und Traurigkeit zusammen, weil auch er nicht vergessen werden wollte – so scheißegal ihm alles auch gewesen sein mochte. Kiev Stingl war das konsequent missachtete transgressive Genie der deutschen Popmusik und Beat-Literatur. Er starb am 20. Februar im Alter von 80 Jahren.

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