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Aus: Ausgabe vom 01.03.2024, Seite 8 / Ausland
Ukraine-Krieg

»Keine Distanz zur NATO-Propaganda«

Über Eindrücke von Reisen in Ost- und Westukraine und die Narrative westlicher Medien. Ein Gespräch mit Patrik Baab
Interview: Dieter Reinisch, Wien
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Erinnerung an die vielen im Donbass getöteten Kinder (Donezk, 27.7.2023)

In den vergangenen Jahren ist eine Flut von Büchern über die Ukraine erschienen. Was unterscheidet Ihr Buch »Auf beiden Seiten der Front« von anderen?

Es unterscheidet sich, weil ich vor Ort war: in der Westukraine unmittelbar vor dem Krieg und im Donbass ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn. Ich kenne beide Länder, die Ukraine und Russland, und es sind Tote auf beiden Seiten zu beklagen. Was aus den Propagandakanälen in Washington, Berlin und Moskau kommt, habe ich durch die Realitätsprobe vor Ort prüfen können. In meinem Buch sind Geschichten von den Menschen aus der Ukraine mit den geostrategischen Überlegungen, die in diesen Krieg geführt haben, verbunden.

Sie kritisieren das westliche Mediennarrativ. Was genau haben Sie daran auszusetzen?

Ich kritisiere nicht nur die medialen Narrative, sondern das Benehmen der Journalisten. Sie führen sich auf wie Soldaten einer Propagandakompanie. Das gehört sich nicht. Sie haben keine Distanz zur NATO-Propaganda – wie auch ein großer Teil der russischen Medien keine Distanz zur Propaganda des Kreml hat. Vor 20 Jahren wäre es nicht denkbar gewesen, dass Sitzredakteure am Computer einem Kriegsreporter in den Rücken fallen. Denn damit gefährden sie sein Leben.

Für einen Kriegsberichterstatter gilt: Raus aus dem Netz und immer in Bewegung bleiben. Wenn man das nicht kann, weil man sich mit Anwälten und dem Shitstorm an der »Heimatfront« abgeben muss, dann wird man zum Ziel der Richtschützen. Diese Sitzredakteure führen sich auf wie journalistische Drohnenpiloten, die fernab vom Kriegsgeschehen am Bildschirm jemand anderen zum Abschuss freigeben.

Das zeigt, in welchem Maß im heutigen Journalismus ethische Normen missachtet werden, die Probe vor Ort durch postfaktisches Skandalisieren und Denunzieren ersetzt wird und wie sich die Mainstreammedien der NATO-Propaganda unterordnen. Die Synkrisis des deutschen Journalismus mit der NATO-Propaganda ist bestürzend. Nicht nur mit Blick auf die Primitivität der tiefen Indoktrination und ihrem postfaktischen Charakter, sondern mehr noch, durch die bedingungslose Unterwerfung unter ihren betont unduldsamen Ausschließlichkeitsanspruch.

Wie hat sich Ihre Erfahrung vor Ort von den Mediennarrativen unterschieden?

Das Leid der Menschen wird in der Berichterstattung weitgehend ausgeblendet. Die geostrategischen Dispositionen, die Vorgeschichte des Konflikts, werden schlichtweg unterschlagen, und auch die Lebensrealitäten sowie die wirtschaftlichen Fragen in der Ukraine kommen gar nicht vor. Alles, was auf russischer Seite passiert, wird vom Nebel der Propaganda verdeckt. So lässt sich leicht erklären, und das deckt sich auch mit der Wissenschaft, dass östlich des Dnjepr die Bevölkerung prorussisch ist. Das hat historische Gründe, und es hat auch den Grund, dass dieser Krieg nicht 2022, sondern 2014 begonnen hat. Es hat Tausende Tote unter der russischstämmigen Bevölkerung gegeben. Erwähnt wird nicht, dass Russland zwar zu 80 Prozent Mariupol zerstört hat, aber mittlerweile sehr viel Geld in den Wiederaufbau steckt.

Wie wird der Krieg im Donbass wahrgenommen?

Wenn man mit den Menschen redet, hört man oft: »Wir sind doch auch Ukrainer. Warum beschießen die uns seit acht Jahren?« Die Menschen im Donbass fühlen sich im Kern als ­Ukrainer, aber dadurch, dass auf dem Maidan 2014 ein Putsch inszeniert und daraufhin die Bevölkerung der föderalistisch orientierten Gebiete im Osten beschossen wurde, haben sich diese Menschen mehr und mehr von der Zentralregierung in Kiew ­abgewendet. Die Regierung hat nach den Vorgaben der NATO und der EU gehandelt, und daher ist, was im Donbass geschah, und auch der russische Einmarsch, ein Resultat dieser Politik. Manche Menschen haben mir gesagt: »Putin hat uns im Stich gelassen, der hätte schon 2014 kommen müssen.«

Patrik Baab ist Publizist und arbeitete für den Saarländischen Rundfunk sowie den NDR

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (4. März 2024 um 14:04 Uhr)
    Wenn Patrik Baab sagt: »Manche Menschen« im östlichen Donbass »haben mir gesagt: ›Putin hat uns im Stich gelassen, der hätte schon 2014 kommen müssen‹«, dann musste das wohl wie folgt ergänzt werden: Was die Kommunisten von der KPRF und die Nationalisten von der LDPR von Anfang an verlangten – doch die Oligarchie war dagegen, und sie war auch im ›Minsk II‹ und die Erneuerung des Beschlusses von Donezk durch das Kiewer Regime stärker.
    Leider hat Baab nicht ganz recht mit dem Hinweis, »östlich des Dnepr« sei »die Bevölkerung prorussisch«. In der linksufrigen »Slobodjanska Ukraina« (speziell den Oblasti Tschernigiw und Poltawa) wählten die Leute immer mehrheitlich nationalistische Parteien, dagegen nie im Schwarzmeergebiet, also den Oblasti Cherson, Nikolajew/Mykolaiw und Odessa. M. a. W. selbst bei einer Trennung zwischen der nationalistischen und »prowestlichen« Nordwestukraine und der »prorussischen« und russischsprachigen Südostukraine bliebe die Gefahr einer NATO-Annäherung an Moskau bis auf wenige hundert Kilometer bestehen.
    • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (4. März 2024 um 14:31 Uhr)
      »Manche Menschen« im östlichen Donbass »haben mir gesagt: ›Putin hat uns im Stich gelassen, der hätte schon 2014 kommen müssen‹«. Fordern kann man viel, aber umsetzen? Auch wenn KPRF und LDPR dies forderten, so ist es ja Putin als Staatschef, der dann die Verantwortung für so etwas trägt. Im Gegensatz zur Propaganda ist Putin maximal lange und entgegen allen Forderungen von verschiedenen Seiten abwartend und deeskalierend vorgegangen. Putin wollte, dass der Donbass in der Ukraine verbleibt, weil er Realist war und ist, nicht jedoch wegen der Oligarchen. Er wusste, welche Orgie an Sanktionen und Kriegsvorbereitungen des Westens Russland dann ins Haus steht und nahm seine Schutzverantwortung in erster Linie für die russische Bevölkerung in Russland wahr, wofür er gewählt war. 2022 herrschte dann aber eine ganz andere Situation. Minsk II hatte sich endgültig zerschlagen. Die Angriffe der Ukraine auf Donezk vervielfachten sich. Inzwischen hatte Russland ebenfalls aufgerüstet und Hyperschallwaffen, bei denen der Westen hinterherhinkt. Die USA wissen, dass auch sie jetzt angreifbarer sind als noch 2014. Russland war 2022 stärker als 2014, der Westen nicht.
  • Leserbrief von Fred Buttkewitz aus Ulan - Ude (1. März 2024 um 04:03 Uhr)
    Augenzeuge im Donbass: Bis vor zwei Jahren war ich täglicher Leser von Telepolis und reger Teilnehmer am Leserforum. Doch mit dem Wechsel in der Chefredaktion veränderten sich die Artikel spürbar in Richtung Mainstream und die Zensur im Forum (gesperrte Beiträge) verschärfte sich. Ich bin jetzt 72 Jahre alt und habe keine Lust, mich bei der Meinungsäußerung aus nicht nachvollziehbaren Gründen sperren zu lassen. Nun, am 24.02. las ich erstmalig nach zwei Jahren wieder Artikel bei Telepolis, in denen mir schien, dass man ängstlich bemüht ist, bestimmte unsichtbare Grenzen nicht zu überschreiten. Ja, man »stellt Fragen«, »wundert sich, dass …« ohne sich selbst klar zu dem Thema zu äußern, sehr lauwarm alles. Bei den Forenten schwingt in einigen Beiträgen die Sorge mit, erneut gesperrt zu werden. Damals trennte ich mich von Telepolis, weil sie ein Foto von Putin veröffentlicht hatten, auf welches ein Labyrinth projeziert war, allerdings in Kreisform, welches auf den ersten Blick an eine Zielscheibe erinnerte, direkt auf der Stirn. Nun, vor einigen Tagen antwortete ich auf den Beitrag eines Forenten, dessen letzte Worte lauteten: »In Russland sitzen die Kriegstreiber und Bellizisten«. Da ich 2019 und 2021 persönlich in Donezk war und die Zerstörungen im zivilen Bereich durch Kiew (Asow) vor (!) dem russischen Einmarsch mit eigenen Augen sah, berichtete ich von meinen Eindrücken. Es war Sonntag, früh am Morgen, der Zensor frühstückte noch. Daher konnten meine drei Beiträge der Diskussion noch von anderen Forenten Zustimmung sammeln (grüne Balken). Der Vorwurf »In Russland sitzen die …« hatte rot. Anschließend waren alle meine Beiträge gelöscht. Der Beitrag »In Russland sitzen die …« hatte schlagartig grün. Augenzeugen mag man bei Telepolis nicht. Andere Augen- und Ohrenzeugen wie Patrik Baab möchte man in Deutschland mundtot machen.

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