4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 28.02.2024, Seite 8 / Ansichten

Fatale Logik

Drohende Eskalation im Ukraine-Krieg. Gastkommentar
Von Sahra Wagenknecht
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Kanonenfutter im Stellvertreterkrieg: Ukrainische Soldaten im Schützengraben (Saporischschja, 22.2.2024)

Der Krieg in der Ukraine geht in sein drittes Jahr. Täglich werden junge Männer an der Front getötet oder verstümmelt, weite Landstriche der Ukraine sind verwüstet. Die Weltbank beziffert den Schaden für die Ukraine auf rund 500 Milliarden US-Dollar. Aber auch unsere Zukunft steht auf dem Spiel in diesem Stellvertreterkrieg, der uns nach Schätzung deutscher Wirtschaftsinstitute schon mehr als 200 Milliarden Euro an Wohlstand gekostet hat.
Die Strategie, Russland durch Sanktionen ökonomisch zu ruinieren und über Waffenexporte an die Ukraine militärisch zu besiegen, ist krachend gescheitert. Das russische Militär ist in der Offensive, während der Ukraine die Soldaten ausgehen. 600.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter sind in den Westen geflohen, weil sie nicht verheizt werden wollen in einem vermeidbaren Krieg, der nach wenigen Wochen in einem Verhandlungsfrieden hätte enden können, wenn der Westen sich nicht auf fatale Weise eingemischt und die falsche Hoffnung auf einen ukrainischen Siegfrieden genährt hätte.

Wird man nun endlich zur Vernunft kommen und versuchen, mit Russland über einen Waffenstillstand zu verhandeln? Es gibt dazu keine Alternative – außer einer totalen Eskalation mit unkalkulierbaren Folgen. Doch nicht nur die Union, auch große Teile der Grünen und der FDP rühren die Trommel für die Lieferung von Raketen, deren Reichweite bis nach Moskau geht. »Ich wundere mich, dass einige nicht einmal darüber nachdenken, ob es zu einer Kriegsbeteiligung kommen kann durch das, was wir tun« – mit diesen Worten hat Olaf Scholz der Lieferung von »TAURUS« zwar eine Absage erteilt. Aber kann man sich auf einen Kanzler verlassen, der schon zuvor rote Linien gezogen und dann überschritten hat und dessen olivgrüne und »liberale« Partner teilweise schon auf eine Koalition mit der Union schielen?

Ein Gamechanger wären auch die »TAURUS«-Raketen nicht. Um Russland militärisch zum Rückzug aus den besetzten Gebieten zu zwingen, bräuchte es ein Vielfaches an Munition und letztlich auch Soldaten aus NATO-Ländern, die die Lücken in den Reihen der ukrainischen Armee füllen. Dieser fatalen Logik entsprechend hat der französische Präsident Macron nun die Entsendung von Bodentruppen ins Spiel gebracht. Spätestens damit würde eine Spirale in Gang gesetzt, die in einem dritten Weltkrieg mit Einsatz von Nuklearwaffen münden könnte.

»Wer A sagt, muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war«, hat Bertolt Brecht einmal gesagt. Da man sich zum Eingeständnis eigener Fehler weder in der Ampel noch in der Union durchringen kann, sind alle vernünftigen Kräfte gefragt, den öffentlichen Druck zu erhöhen und die Erkenntnis weiter zu verbreiten: Es gibt für diesen Konflikt keine militärische Lösung! Wer mit deutschen Waffen den Krieg nach Russland tragen will, der trägt den Krieg nach Deutschland und setzt damit unser größtes Gut fahrlässig aufs Spiel: ein Leben in Freiheit, Frieden und Sicherheit.

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  • Leserbrief von Volker Wirth aus Berlin (29. Februar 2024 um 15:07 Uhr)
    Sahra Wagenknecht hat recht, was die steigende Eskalationsgefahr betrifft. Ein unvermeidliches Schicksal ist das jedoch nicht. Dafür zwei Beispiele:
    Franco-Spanien schickte gegen die Sowjetunion die »Blaue Division«, die offiziell, so etwa wie vorher im spanischen Krieg die »Legion Condor« der Nazis war, nur aus »Freiwilligen« bestand; weder erklärte Franco der UdSSR den Krieg noch umgekehrt. Das sicherte der Franco-Tyrannei weitere 30 Jahre Fortbestehen, bald sogar in recht gutem Verhältnis zur größten aller westlichen Demokratien, die dafür Stützpunkte erhielt.
    Die Volksrepublik China entsandte andererseits 1950, als die KVDR wankte, die sog. »Volksfreiwilligen« in den Koreakrieg, von denen ein großer Teil getötet oder verwundet wurde; formal bestand dennoch kein Kriegszustand zwischen »Volkschina« – im Adenauerstaat immer »Rotchina« genannt – und den USA. Im Gegensatz zu diesen zogen sich die chinesischen Truppen bald nach dem Waffenstillstand 1953 aus Korea zurück.
    Die Gefahr einer Eskalation zum Dritten Weltkrieg ist allerdings ganz real.
    Sahras Schlussfolgerungen sollten wir uns sehr zu Herzen nehmen. Russische Medien meinen übrigens, Macron wolle eh nur benennen, was seit langem im Gange sei: der Einsatz vieler französischer »Experten« bzw. »Freiwilliger« an der antirussischen Front.
    Zum Schluss: Der Krieg in der Ukraine geht bald in sein elftes Jahr, liebe Sahra, nicht in sein drittes. Er eskalierte allerdings vor zwei Jahren, als Kiew der zweite Minsker Abkommen endgültig in die Tonne trat, die Donbassstädte massiv angriff und damit Russlands Eingreifen provozierte.
    • Leserbrief von H. Heine aus düsseldorf (3. März 2024 um 09:34 Uhr)
      Seh ich ähnlich wie Sie speziell zur Geschichte des Kriegsgeschehens in der Ukraine seit 2014. In Frau Dr. Wagenknechts Beitrag fiel mir formal eine andere, die zu kritisierenden Verantwortlichen, entlastende 3-Worte-Formel auf: man. Gruß, Harry
  • Leserbrief von B. Schoeps aus Hamm (28. Februar 2024 um 19:48 Uhr)
    »Der Krieg in der Ukraine geht in sein drittes Jahr.« So beginnt Sahra Wagenknecht ihren Kommentar »Fatale Logik«. Wie passt diese Aussage damit zusammen, dass bereits 2014 ein Buch mit dem Titel »Krieg in der Ukraine« (von F. W. Engdahl) erschien? Oder damit, dass 2015 das Buch »Kriegsherd Ukraine« (Rudolph/Markus) auf den Markt kam? Was nun ins dritte Jahr geht, ist allenfalls der Krieg Russlands gegen die Ukraine, der eben dem Bürgerkrieg entsprang, der seit dem Putsch auf dem Maidan wütet, und zwar seit 10 Jahren!
  • Leserbrief von Holger (28. Februar 2024 um 17:57 Uhr)
    »Wird man nun endlich zur Vernunft kommen und versuchen, mit Russland über einen Waffenstillstand zu verhandeln?« Das haben Sie schon oft gesagt, aber nie dargelegt, wie dieser Verhandlungsfrieden denn aussehen soll? Vielleicht ist das ja auch Ihre Absicht, denn die Konsequenz würde wohl auch Ihren Unterstützern einige Bauchschmerzen bereiten. Also mache ich das mal für Sie: Mangels Verhandlungsmasse besteht die einzige Alternative zur weiteren Unterstützung der Ukraine in deren Aufgabe. Selenski Asyl anbieten und den Rest fallen lassen? Klar, sind ja eh alles Bandera-Faschisten (oder so). Ach so, Russland greift jetzt schon nach Moldau (siehe Meldung von heute)? Macht nichts, kann es auch haben, gehörte ja schon mal zur Sowjetunion. Jetzt wird es aber knifflig: Polen gehörte auch schon mal zur Hälfte zur Sowjetunion. Eine Landbrücke nach Kaliningrad, das wär doch was! Ob Putin der Versuchung widerstehen kann? Wohl eher nicht. Der macht so lange weiter, wie man ihn ungestraft lässt. Von seinem Kettenhund Medwedjew ganz zu schweigen. Viel Spaß beim Verhandeln. Vielleicht macht er ja an der Oder Halt, wenn wir wieder sein Öl kaufen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Paul V. aus 52062 Aachen (28. Februar 2024 um 12:00 Uhr)
    Sahra Wagenknecht ist eine kluge Frau, die größtenteils, nicht immer, Richtiges und Wichtiges schreibt. So auch hier. Aber die Devise des Kanzlers, dass die Ukraine und damit die NATO, den Krieg nicht verlieren dürfe, ist die Blockade jeglicher Waffenstillstandsbemühungen und Friedensverhandlungen. Der Kanzler weiß, dass die Niederlage der Ukraine, und damit der Nat, eine »Zeitenwende« ist. Der Wertewesten wäre auf absehbare Zeit erledigt, weil unglaubwürdig. Die abermilliarden Euro wären in den Wind geschossen, zu Lasten des arbeitenden Volkes. Das müsste den Menschen erklärt werden.
    Aber was ist zu tun? Die Doktrin eines Sieges der Ukraine ist überall zu attackieren. Der Ex-NATO-General Harald Kujat hat jüngst in einem Interview mit der Weltwoche dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Der Tenor: die Ukraine hat den Krieg verloren, weil ihr die Soldaten ausgegangen sind und ausgehen. Diese Sichtweise sollte Frau Wagenknecht in einem offenen Brief an Kanzler Scholz und die Ampel- und CDU-NATO-geilen Politiker publizieren. Frau Wagenknecht, schreiben Sie bitte! Und die Kriegsbeteiligung unseres Landes wird nicht durch die Strack-Zimmermans und Kiesewetters oder sonst wen, den grünen Kriegsbiologen Hofreiter, definiert, sondern durch den Gegner, die Russische Föderation, die die Infrastruktur unseres Landes ohne Atomwaffen platt schlagen könnte. Es muss nicht immer das Atom sein. Auch mit konventionellen Waffen würde unser Land zerstört und besiegt. (…)
    Noch einmal zur Idee mit dem offenen Brief: Wir im Westen erinnern uns an den »Krefelder Appel« in den 80ger Jahren gegen die »Nachrüstung« mit Pershing-2-Raketen. Es kamen Millionen Unterschriften der Bürger zusammen. Warum nicht in einer viel bedrohlicheren Situation einen ähnlichen Appell gegen die Kriegsbesoffenheit unserer politischen Eliten und ihrer medialen Helfershelfer. Klar, der Appell kann heißen, wie er will, vielleicht Berliner Appell. Die organisatorische Arbeit ist groß, sie könnte mit Bündnispartnern Ihrer Partei geschultert werden, zum Beispiel durch »Aufstehen« und durch Organisationen der Gewerkschaften und durch andere fortschrittliche friedensliebende Organisationen. Bitte, erwägen Sie auch das auch!
    • Leserbrief von Franz Döring (28. Februar 2024 um 17:26 Uhr)
      Glauben Sie etwa an einen konventionellen, russischen Angriff auf die NATO-Staaten! Putin ist kein Selbstmörder! Was soll also Ihr Kriegsgeschrei! Wir wollen Freundschaft mit dem russischen Volk!
      • Leserbrief von Onlineabonnent/in Paul V. aus 52062 Aachen (29. Februar 2024 um 11:41 Uhr)
        Lieber Herr Döring, Sie können doch lesen? Und auch den Zusammenhang verstehen? Bei dem, was Sie mir antworten, kommen leise Zweifel. Nehmen Sie sich alle Zeit der Welt, atmen tief durch und lesen laut noch einmal. Alles, von vorne. Oder lassen Sie sich meinen Text vorlesen. Ich hoffe auf gutes Gelingen! Herzlich Ihr Paul Vesper
  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (27. Februar 2024 um 21:57 Uhr)
    Man könnte meinen, wir hätten alle keine Kinder und Enkel, und an unserem eigenen Weiterleben sei uns auch nicht mehr sonderlich gelegen. Andernfalls dürfte doch wohl kaum noch jemand passiv vor der Glotze hocken und apathisch der Apokalypse entgegendösen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (27. Februar 2024 um 21:18 Uhr)
    Ein bisschen viel »unkalkulierbare Folgen« und »könnte«. Der »Westen« wäre besser benamst mit »USA«, denn deren Vasallen bzw. Marionetten agieren in Europa, besonders in Deutschland. Dass sie das gegen die nationalen Interessen tun, bestätigen sogar deutsche Wirtschaftsinstitute, wie im Beitrag zitiert. Was »uns« das gekostet hat, könnte man auch aufdröseln: Die zitierten 200 Milliarden Euro Verlust an Wohlstand sind eine Nettosumme, zu der ich und meinesgleichen einen erheblichen Teil zu Verringerung beigetragen haben. Einige andere, allen voran Krauss-Maffei Wegmann, Rheinmetall und fossile Energieverkäufer verdienen sich daran eine goldene Nase – auf meine Kosten. Die Folgen einer weiteren Eskalation sind kalkulierbar. Die russische Militärdoktrin sagt klar: Wenn der Bestand der Russischen Föderation gefährdet ist, werden Atomwaffen eingesetzt. Da müsste dem Wertewesten schon allerhand gelingen (»Enthauptungsschlag« mitsamt Zerstörung der Zweitschlagfähigkeit), das zu verhindern. (…)

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