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Aus: Ausgabe vom 28.02.2024, Seite 6 / Ausland
Gazakrieg

Nicht endender Raubzug

Israelische Armee stellt Plünderung des Gazastreifens online zur Schau – Erinnerungen an Nakba werden wach
Von Lena Obermaier
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Ohne erbeutetes palästinensisches Eigentum: Israelische Soldaten posieren nahe der Grenze zu Gaza (23.2.2024)

Während die offizielle Zahl der palästinensischen Todesopfer im Gazastreifen die 30.000 überschritten hat, gibt es ein Kriegsverbrechen, das bislang weniger mediale Aufmerksamkeit bekommen hat: Plünderung. Israelische Soldatinnen und Soldaten entwenden seit Wochen Privateigentum aus palästinensischen Häusern – laut Genfer Konvention verboten. Von Motorrädern und Musikinstrumenten bis hin zu Schmuck und Geschirr, präsentieren israelische Streitkräfte ihre Kriegsbeute auf Facebook, Tik Tok und israelischen Nachrichtensendern. Nach Angaben des Medienbüros des Gazastreifens wurden seit dem Beginn der Bodenoffensive Ende Oktober mindestens 25 Millionen US-Dollar in Bargeld, Gold und Wertgegenständen aus dem Gazastreifen entwendet. Bereits im November musste beispielsweise der palästinensische Musiker Hamada Nasrallah über Tik Tok erfahren, dass ein israelischer Soldat inmitten der Trümmer seines zerstörten Hauses auf seiner Gitarre spielte, die ihm sein verstorbener Vater 15 Jahre zuvor geschenkt hatte. Die Gitarre hatte er bei seiner Flucht in den Süden des Gazastreifens nicht mitnehmen können.

Auf den ersten Blick mögen Plünderungen inmitten eines Genozids wie ein marginales Problem erscheinen. Schließlich ist die humanitäre Krise im Gazastreifen mehr als katastrophal. In den Monaten seit Beginn der israelischen Militäroffensive ist die palästinensische Enklave nach Angaben der Vereinten Nationen »zu einem Ort des Todes und der Verzweiflung geworden«. Doch Plünderungen sind in vielen Aspekten integraler Bestandteil eines Genozids. Zum einen entmenschlicht die Zurschaustellung der Kriegsbeute deren anonyme Besitzer. Ein besonders perfides Beispiel ist hierbei das öffentliche Posieren, teilweise mit lasziven Gesten, mit gestohlener Unterwäsche aus dem Privatbesitz palästinensischer Frauen. Die zu verspotten ist bezeichnend für die Überzeugung, dass palästinensische Frauen völlig fremd und fremdbestimmt wären – es scheint unbegreiflich zu sein, dass die Frauen von Gaza wie alle anderen Frauen sein könnten: Ehefrauen, Geliebte und weibliche Wesen mit Wünschen, Interessen und Bedürfnissen. Zum anderen verwehrt die illegale Aneignung von Hab und Gut den Palästinensern eine Zukunft der Rückkehr. Denn Kriegsbeute bedeutet auch den Verlust geerbter und gekaufter Besitztümer, die Kultur, Erinnerungen und einen Lebensalltag verkörpern.

In einem Artikel in der israelischen Tageszeitung Haaretz wies der Soziologe Yagil Levy am 19. Februar außerdem darauf hin, dass Plünderungen auch etwas über die Schwäche der israelischen Armee aussagen und der »Ausdruck des Wunsches nach Rache« sind. Sie »haben sich nicht im luftleeren Raum entwickelt, sondern es gab sie schon immer. Was hier neu ist, ist das Ausmaß, der Stolz der Soldaten darauf und die Schwäche der Armee angesichts dieser Tatsache«, schrieb Levy. So wurde erst mehrere Wochen nachdem Plünderungen zur Routine geworden waren, ein Kommuniqué an die Kommandeure und Soldaten gerichtet – mit der Aufforderung »nichts zu nehmen, was uns nicht gehört«.

Die derzeitigen Plünderungen sind allerdings nicht einzigartig in der Geschichte Palästinas. Zur Zeit des britischen Mandats plünderten britische Soldaten und Kolonialpolizisten regelmäßig während Hausdurchsuchungen palästinensische Dörfer. Neben den Massakern, Vertreibungen und Enteignungen während der Nakba (1947 bis 1949) stahlen und plünderten israelische Kämpfer und Zivilisten massenhaft palästinensisches Eigentum. Das Ausmaß und der Wert der Plünderungen bleibt bis heute unklar, da nur die vom Staat enteigneten oder an den Staat übergebenen Gegenstände im Detail dokumentiert wurden. In vielen Aspekten sind die jetzigen Geschehnisse deshalb wie ein Widerhall von den Plünderungen vor über 75 Jahren: Das schiere Ausmaß, der Stolz der Soldaten darauf und die Schwäche und teilweise Beihilfe der Vorgesetzten angesichts der offen in sozialen Netzwerken dargestellten Kriegsbeute erinnern an eine Katastrophe, die bis heute andauert.

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