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Aus: Ausgabe vom 27.02.2024, Seite 2 / Kapital & Arbeit
EU-Agrarpolitik

Brüssel erntet Wut der Bauern

Treffen der EU-Landwirtschaftsminister von Protesten begleitet
Von Gerrit Hoekman
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Die Landwirte brachten ihren Unmut mit Güllestrahlen, Feuer und Treckerkorsos zum Ausdruck

Das Europaviertel in der belgischen Hauptstadt Brüssel glich am Montag einer belagerten Festung. Die Polizei hatte den Schumanplatz, um den herum die Gebäude der EU liegen, hermetisch abgeriegelt. Mit rund 900 Traktoren kamen Landwirte nach Angaben der Polizei nach Brüssel, um den Landwirtschaftsministern der EU den Marsch zu blasen, die sich dort zeitgleich trafen. Im Internet kursierende Videos zeigten brennende Reifen und Abfall, Traktoren durchbrachen Polizeisperren, die Einsatzkräfte setzten Wasserwerfer und Tränengas gegen die Bauern ein, wie Aufnahmen des Brüsseler Lokalsenders Bruzz zeigten. Ab dem Nachmittag wurde auch die Zufahrt zum Brüsseler Flughafen blockiert.

In erster Linie waren Landwirte aus der französischsprachigen Wallonie nach Brüssel gekommen. Aber auch flämische und deutsche Bauern waren vor Ort. Aus Italien kamen etwa 500 Teilnehmer angereist, zu erkennen an den grün-gelben Fahnen und Halstüchern des Bauernverbands Coldiretti. 50 Aktivisten des spanischen Verbands Asaja schlossen sich dem Protest ebenfalls an. »Unsere erste Forderung ist die Garantie eines angemessenen Einkommens für die Landwirte«, teilte der wallonische Bauernverband Fugea am Montag mit. Solange die EU-Kommission keine konkreten Schritte einleite, gehe der Protest weiter.

»Ich hoffe, dass wir den Landwirten bessere Löhne bieten können, aber wir müssen abwarten, was die Kommission tatsächlich vorschlägt, weil uns die Details noch nicht vorliegen«, sagte der belgische Landwirtschaftsminister David Clarinval am Montag laut VRT NWS. Die Forderungen der Bauern an die EU-Behörde sind bereits klar: Lockerung der Umweltauflagen, weniger Verwaltungsaufwand und effektiven Schutz vor der außerhalb der EU liegenden Konkurrenz, vor allem aus der Ukraine und den südamerikanischen Mercosur-Staaten, mit denen die EU ein Freihandelsabkommen anstrebt.

Die EU-Kommission hatte im Vorfeld ein Papier mit Vorschlägen präsentiert. So soll ab März weniger Ackerfläche als ursprünglich vorgesehen in Weideland umgewandelt werden können. Die Regelung, nach der ein bestimmter Anteil der Ackerfläche brachliegen muss, ist derzeit ausgesetzt. »Ich weiß, dass die Bauern wollen, dass wir uns etwas einfallen lassen, aber in Europa ist das nicht immer einfach«, bat Clarinval um Geduld. »Aber wir sind jetzt schneller als sonst.« Die Contenance bei den Bauern scheint, wie die erbosten Proteste vom Montag zeigen, allerdings aufgebraucht.

»Sie wollen uns nur Krümel geben, aber wir wollen das Brot und sogar die ganze Bäckerei«, sagte der Sprecher des kleinbäuerlichen Boerenforum (Bauernforum), Tijs Boelens, gegenüber Bruzz. »Wenn man Bauern wirtschaftlich ins Grab bringt und ihnen dann noch ökologisch das Messer an die Kehle setzt, entsteht diese Frustration«, erklärte der Ökobauer Boelens. »Wenn sich Europa dafür entscheidet, Elend und Verzweiflung zu säen, dann wird es Wut ernten.«

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (27. Februar 2024 um 10:46 Uhr)
    Die Bauern sorgen sich um ihre Existenz. Schon vor 500 Jahren erhoben sich Landwirte gegen die adligen Herren, und nun richtet sich ihr Unmut gegen Brüssel. Die Bäuerinnen und Bauern sind aufgebracht. In immer mehr europäischen Ländern steuern sie ihre riesigen Traktoren in die Stadtzentren, blockieren den Verkehr und bespritzen Regierungsgebäude mit Gülle. Worum geht es? Vor allem um das liebe Geld. Die Landwirte kämpfen gegen erhöhte Steuern, gestrichene Subventionen, Freihandelsabkommen und Bürokratie. Die schwer verständlichen Botschaften auf den Protestplakaten weisen auf einen weiteren Grund des Aufruhrs hin: Die Bauern fühlen sich unverstanden. Kaum jemand begreift, was sie, die stetig schrumpfende Minderheit, eigentlich leisten. Dabei sind die Landwirte unentbehrlich, um die Bevölkerung zu ernähren. Allerdings geraten die Landwirte zunehmend unter fremde Kontrolle. Große Detailhändler und Agrokonzerne diktieren die Geschäftsbedingungen. Die Industrialisierung zwängt sie in ein Korsett, das nicht zu ihrem natürlichen Arbeitsrhythmus passt, der sich den Jahreszeiten anpassen sollte. Die Landwirte kämpfen letztlich um ihre prägende, aber schwindende Autonomie. Zwar sind die bereits beschlossenen Abschwächungen der Brachenvorgaben (GLÖZ 8) und die geplante Anpassung der Grünlandvorgabe (GLÖZ 1) erste Schritte in die richtige Richtung. Der EU-Bauerndachverbändezusammenschluss »Copa-Cogeca« sieht hier jedoch noch wesentliches Verbesserungspotential. Aufgeschreckt durch die Bauernrevolte muss Brüssel nunmehr das Credo verfolgen, dass der »Grüne Deal« weder die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft gefährden noch die Landwirte überlasten sollte!
  • Leserbrief von Ullrich-Kurt Pfannschmidt (27. Februar 2024 um 07:56 Uhr)
    »Unsere erste Forderung ist die Garantie eines angemessenen Einkommens für die Landwirte«: Im Klartext geht es doch wohl um Erhöhung der Verkaufserlöse für die Agrarprodukte. Nur zu, möchte man sagen! Allerdings führt das dann zur Erhöhung der Lebensmittelpreise für die Endkunden. Dieses wird dann regelmäßig, z. B. in jW-Artikeln, kritisiert! – Es erstaunt, dass die von den Bauern geforderte »Lockerung der Umweltauflagen« unkommentiert bleibt. Was sagen eigentlich die Umweltaktivisten dazu? Ich höre nichts! Es wird nicht genügen, wenn nur, wie oft gefordert, bestimmte Wirtschaftszweige ihren Anteil an Klimakrise und Umweltzerstörung verringern sollen, während andere in dem Glauben gelassen oder gar bestärkt werden, das ginge sie nichts an.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marcus B. (26. Februar 2024 um 23:21 Uhr)
    Die Vorgaben zu ökologisch verträglicherer Agrarwirtschaft sind das Äquivalent von Merkels »Wir schaffen das!«: Keiner sagt wie, und mit der Ansage allein betrachtet man seine Schuldigkeit als getan. Ob das zu schaffen ist und unter welchen Bedingungen war und ist nebensächlich. Klarstellung: Ich meine nicht, dass ich kategorisch dagegen bin, sondern, dass ich mehr erwarte als wohlfeile Tugendhaftigkeitssignalisierung (virtue signalling), in beiden Fällen. Wie sich schon bei der Flüchtlingskrise schnell zeigte, sind die Institutionen überfordert, weil kaputtgespart – schwarze Null ist wichtiger als funktionierender Staat. Bauern leben oft von der Hand in den Mund, weil sie bereits ohne Auflagen keine angemessenen Preise für ihre Produkte erzielen können. Diesen dann noch abzuverlangen, gestern schon »grüner« zu werden, grenzt an: »Sollen sie doch Kuchen essen, wenn sie kein Brot haben.« Mehr Subventionierung kann auch nicht die Antwort sein, denn erstens sind die Kassen leer und zweitens schaffen sie mehr Probleme als sie lösen. Schutzzölle wären sinnvoller aber sind des Teufels, weil WTO, freier Handel, Markt und so. Protektionismus hat Name (und Daseinsberechtigung) nicht von ungefähr: Lokale Produzenten brauchen Schutz vor Preisdumping durch Billigimporte aus Ländern mit niedrigeren Standards und/oder höherer Subventionierung, die noch dazu weite Wege (Mercusor) zurücklegen. Im Gegenteil zu Subventionen füllen Zölle sogar die Kassen, aber das hat ja der Trump gesagt. Im Laden müssten folglich jetzt schon höhere Preise erzielt werden, was jedoch auf Gegenwehr bei den Kunden trifft, die ebenfalls zu einem Gutteil von der Hand in den Mund leben; Bio kann sich nur der (E-)SUV fahrende Bessergrüne leisten. Und dann (!) erst kommen zu erwartende zusätzliche Preissteigerungen durch den nötigen Umbau. Es gibt schlicht keine einfachen Lösungen, aber die Marie Antoinettes der Politkaste glauben ganz doll festigstens an ihre Verheißungen – soviel zum Säkularismus.

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