junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 04. / 5. Mai 2024, Nr. 104
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 27.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Literaturwissenschaft

Prüfstein Goethe

Dem Germanisten Heinz Hamm zum 80. Geburtstag
Von Matthias Oehme
2022-11-05 Hacks-Tagung - Prof. Heinz Hamm 03.png
Klassik als Kampffeld: Heinz Hamm auf der Peter-Hacks-Tagung 2022

Auf der Buchmesse in Leipzig besuchen mich gern alte Uni-Kollegen. Vor elf oder zwölf Jahren kam einer, den ich persönlich noch nie getroffen hatte, so nah unsere Fachgebiete uns auch gebracht hatten – ein bekannter, hoch geachteter Literaturwissenschaftler. Und während ich nicht wusste, was er nach 1990 getan hatte, war er über die Publikationen des Verlags gut informiert – selbst über die des frisch gegründeten Aurora-Verlags. Und zu dem zog es ihn mit einem Manuskript …

Heinz Hamm ist ein bedeutender Goethe-Forscher; abschätzige Urteile über diese vermeintlich antiquierte Profession können sich angesichts der Geschichte linker Verunglimpfungen und rechter Verfälschungen Goethes nur selbst desavouieren. Sie waren und sind stets geschichtsvergessen und theoretisch haltlos, wie fett sie sich auch plustern und die Namen welcher Betriebsnudeln sie auch schmücken. ­Goethe ist ein sicherer Probestein, an dem sich Emanzipation und Fortschritt auf der einen und Dunkelmännertum und Reaktion auf der andern Seite scheiden. Denn die Haltung zu ­Goethe – Werk, Person, Philosophie – zeigt an, ob einer der Menschheit eine Zukunft gibt, und was für eine. Gerade der Wissenschaftler Hamm hat das mit seiner Arbeit bewiesen.

Er hat uns gelehrt, wie Goethe die geistigen Strömungen, die materiellen (sozialen, wirtschaftlichen) Entwicklungen seiner Zeit aufnahm, reflektierte, ins Künftige dachte. Wie er etwa Saint-Simon las und ein tiefes Verständnis für die aufkommenden Fragen entwickelte, die der Kapitalismus mit seiner enormen Produktivität, der Befreiung menschlicher Wesenskräfte wie der gleichzeitigen brutalen Unterdrückung und Ausbeutung derselben aufwarf. Mit seinem Buch über den Theoretiker Goethe (»Der Theoretiker Goethe. Grundpositionen seiner Weltanschauung, Philosophie und Kunsttheorie«, 1976) hat Hamm ein Standardwerk für Germanisten und Kulturwissenschaftler geschrieben, das in der DDR jeder vom Fach kannte. Es ist auch neuesterdings wieder aufgelegt worden. Hamm hat sich dafür von seinem materialistisch-dialektischen Herangehen nicht verabschiedet wie manch andere.

Die Goethe-Forschung war und ist ein ideologisches Kampffeld. Stets waren sich die Beteiligten bewusst, welche Bedeutung Goethes Werk und Auffassungen für die Bestimmung nationaler Kulturpolitik und geistiger Hegemonie hatte – in Ost wie West. Während die bundesrepublikanische Goethe-Forschung, institutionell und finanziell ungleich besser aufgestellt und ausgestattet, den Dichter und Philosophen überwiegend zu einem zahnlosen Liberalen verniedlichte, als »Fürstenknecht« beschimpfte oder konservativ zu wenden suchte (eine Betrachtung darüber wäre wünschenswert), währenddessen also steht Hamm in der Traditionslinie marxistischer Literaturwissenschaft. Er ist sicher einer von wenigen, die man nicht beleidigen kann, wenn man sie mit der Bezeichnung »orthodoxer Marxist« versieht – in dem Sinne, in dem Lukács über »Orthodoxie in Fragen des Marxismus« in »Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik« geurteilt und darunter verstanden hat, »dass im dialektischen Marxismus die richtige Forschungsmethode gefunden wurde, dass diese Methode nur im Sinne ihrer Begründer ausgebaut, weitergeführt und vertieft werden kann«.

Kein Wunder, dass Hamm von ­Goethe zu Peter Hacks kam und auch zu ihm wichtige Publikationen verfasste, dessen politisch-philosophische Schriften unter dem Titel »Marxistische Hinsichten« versammelte und den Briefwechsel zwischen André Müller sen. und Hacks edierte.

Am Ende hat Hamm das vorgeschlagene Buch geschrieben und sich darin die aktuellen Linien der Goethe-Verfälschung vorgeknöpft (»Der falsche ­Zeuge. Irrwege der Goethe-Forschung«). Das Messemanuskript, das er mir anvertraute, erschien 2013 im Aurora-Verlag zwischen der »Berlinischen Dramaturgie«, den Bänden von Hans Heinz Holz zu »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie« und dem besten Buch von Sahra Wagenknecht – Heinz Hamm hat das seinerzeit gut gefallen. Wir wünschen ihm zu seinem heutigen 80. Geburtstag fortgesetzte reiche Produktivität.

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Wolfgang Harich, geboren am 9. Dezember 1923 in Königsberg, gest...
    09.12.2023

    Ein linientreuer Dissident

    Leben voller Wendungen. Vor 100 Jahren wurde der Literaturwissenschaftler und Philosoph Wolfgang Harich geboren
  • Die Herausgabe von Lukács' Lebenswerk war, ist und wird ein...
    02.06.2021

    Fortsetzung von etwas

    Verabredetem Plan folgen und von Lukács verkanntes Schrifttum berücksichtigen: Zur Geschichte der Werkausgabe
  • Wolfgang Harich (geboren am 3. Dezember 1923, gestorben am 15. M...
    16.03.2020

    Genealogie des Verfalls

    Wolfgang Harich war in der DDR weitgehend isoliert. Unerbittlich stritt er gegen die dortige Rehabilitierung Friedrich Nietzsches – vergeblich

Regio:

Mehr aus: Feuilleton