4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 28.02.2024, Seite 12 / Thema
Porajmos

»Kein genozidales Motiv«

Zur bundesdeutschen »Aufarbeitung« des Völkermords an den Sinti und Roma
Von Ulrich F. Opfermann
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Protest gegen den anhaltend rassistischen Umgang der deutschen Behörden mit Sinti und Roma (Gedenkstätte des KZ Bergen-Belsen, 27.10.1979)

Seit den 2000er Jahren gibt es das Wort von der Bundesrepublik als einem »Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung«. Es wird dem ungarischen Ironiker Péter Esterházy zugeschrieben. Medial wird es meist ironiefrei vorgetragen. Das Pathos dieses Begriffs aus den 1950er Jahren bekommt dann einen geradezu triumphalen Beiklang.

Klopft man die »Vergangenheitsbewältigung« ab, klingt sie ausgesprochen hohl. Dazu an dieser Stelle nur etwa der quantitative Vergleich der Zahlen und der Ergebnisse der Strafverfahren in den aus dem »Großdeutschen Reich« hervorgegangenen drei Staaten. Die DDR hatte ein Viertel, Österreich ein Achtel der Bevölkerung Westdeutschlands, das durch Zuzug aus dem Ausland zudem die höchste Dichte von NS-Tätern pro Flächeneinheit aufwies. In der Bundesrepublik lagen auch die Verfahrenseinstellungen und die Freisprüche mit nicht ganz 94 Prozent am höchsten, die Zahl der Langzeithaftstrafen wie überhaupt der Verurteilungen dagegen am niedrigsten. Weniger als ein Prozent der Täter erhielt »lebenslänglich«.

Das ist das eine. Das andere ist die systematische Hereinnahme von NS-Personal, das aus der Entnazifizierung als »belastet« hervorgegangen war, in den Staatsdienst. Ein westdeutsches Wiedereinstellungsgesetz schuf zwei Jahre nach der Staatsgründung 460.000 Anspruchsberechtigte. Es konnten auf solchem Weg jene Machtstrukturen wieder aufgebaut werden, die von vielen Gesellschafts- und Politikwissenschaftlern seit den Weimarer Jahren bis in die alliierten Prozesse nach 1945 hinein als ursächlich für die nazistische Machtübernahme durch die NSDAP und durch ihre deutschnationalen Bündnispartner betrachtet wurden. In Gesamteuropa war es ein Sonderweg.

Eine Domäne von ehemaligen Naziakteuren war die westdeutsche Justiz. Bereits in der ersten Hälfte der 1960er Jahre konstatierte der Historiker Joachim Fest, dass 80 Prozent der Richter am Bundesgerichtshof (BGH), der Spitze des westdeutschen Richtertums, aus dem faschistischen Verwaltungs- und Justizdienst kamen. Fritz Bauer, ein weißer Rabe in der westdeutschen Justiz, sah dort eine »Traditionskompanie des Reichsgerichts« am Werk.

Damit korrespondiert eine Häufung von Vertretern des völkischen Spektrums in der Legislative. Im Bundestag stellten die vormaligen Mitglieder der NSDAP die größte »Fraktion«, verstärkt durch Exmitglieder der DNVP, aus deren Kreis viele Gründer der CDU kamen. NSDAP und DNVP: Das waren die Koalitionspartner der Regierung Hitler am 30. Januar 1933, dem Tag der sogenannten Machtergreifung, gewesen.

Das alles werden viele von den Nazis Verfolgte damals kaum als eine »Bewältigung der Vergangenheit« angesehen haben. Schon gar nicht, wenn sie erleben mussten, wie gegen sie gerichtete Hetzinhalte nach 1945 deshalb weiterhin politisch genutzt wurden, weil sie für die Mehrheitspolitik eine ertragreiche Ressource darstellten. So war es im Fall der Roma-Minderheit, einer ethnisch-rassistisch und sozialchauvinistisch hochstigmatisierten Bevölkerungsgruppe. Sie und die westdeutsche Justiz werden im Folgenden im Mittelpunkt stehen.

»Deutschrechtliches« Strafrecht

Folgende vergangenheitspolitische Weichenstellungen bildeten den Rahmen der westdeutschen justiziellen Möglichkeiten in den NS-Verfahren. Sie bewirkten, dass es wenige Verfahren, insgesamt wenige Verurteilte und ein Minimum an Hochverurteilten gab:

1. Die vier Alliierten – die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Frankreich – hatten als Schlussfolgerung aus den nazistischen Verbrechen deren Sanktionierung nach völkerrechtlichen Grundsätzen eingeführt. Dabei erhielt das alliierte Kontrollratsgesetz (KRG) 10 eine Hauptrolle. Es sah die Ahndung sowohl von Kriegsverbrechen als auch von Verbrechen »against peace and humanity« vor, und zwar als Handlungen von Tätergruppen. Die westdeutsche Mehrheitspolitik und die herrschende Meinung in der Justiz bekämpften dieses Konzept als »Siegerjustiz«. Dazu gehörte eine verharmlosende, bis heute gültige Sprachregelung: Aus den »Crimes against humanity« wurden in Politik, Justiz, Wissenschaft und Medien »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« statt »gegen die Menschheit«, nach Hannah Arendt das »Understatement des Jahrhunderts«.

2. Zum KRG 10 gehörte zwingend ein Rückwirkungsgebot bei Völkerrechtsverbrechen. Die übergroße Mehrheit der europäischen Staaten führte es ein. Kein NS-Täter sollte hoffen können, mangels einer Kodifizierung solcher Verbrechen vor 1945 werde er danach nicht bestraft werden können. Politik und Justiz in der BRD verhängten dagegen ein Verbot der Rückwirkung. Als einziger Staat unterschrieb die BRD das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Rückwirkungsgebot nicht. Das war eine einzigartige Interpretation von Rechtsstaatlichkeit.

3. Das westdeutsche Strafgesetzbuch (StGB) beruhte auf einem gegen die gewöhnliche Kriminalität ausgerichteten »deutschrechtlichen« Individualstrafrecht. Das verlangte einen nach Ort und Zeit »konkreten Tatnachweis« und bei Mord »niedere Motive«. Dazu gehörte »Rassenhass«. Organisierte Tatgruppen und -zusammenhänge interessierten nicht. An einem Schreibtisch in einem Büro die Deportation einer Familie nach Birkenau entschieden zu haben, machte niemanden zum Mörder. Die StGB-Praxis individualisierte, psychologisierte, entkontextualisierte, entpolitisierte und enthistorisierte die arbeitsteilig praktizierte NS-Täterschaft, bestritt den Ausnahmecharakter der Naziverbrechen und begünstigte die Schreibtischtäter aus den Mittelschichten und der Oberschicht.

4. Das westdeutsche StGB war das StGB des Nazistaats. Rechtspositivismus war die in Westdeutschland herrschende »deutschrechtliche« Lehre. Das hieß: »Was damals rechtens war, kann heute nicht unrecht sein.« So der promovierte Jurist Hans Filbinger als Ministerpräsident 1978. Der NS-Staat sei kein Unrechtsstaat gewesen.

5. Mit einem BGH-Urteil von 1962 wurde die Praxis, Täter zu Tatgehilfen (»Gehilfenjudikatur«) herunterzustufen, zum Prinzip. Es bewirkte niedrige Haftzeiten bei nicht selten extrem hohen Opferzahlen. Proteste im In- und Ausland waren die Folge.

6. Durch Verjährungen erlosch die Strafbarkeit. Eines der ersten Gesetz, das der Bundestag verabschiedete, war ein Verjährungsgesetz (»Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit«), ein zweites folgte 1954. Damit wurde auch ein Teil der Tötungsdelikte straffrei. 1968 stufte der Bundestag die Sanktionierung der Mordgehilfen so herunter, dass ihre Taten rückwirkend seit 1960 verjährt waren. Das hatte ein ehemaliger Sonderrichter, nun der Spitzenstrafrechtler im Ministerium von Gustav Heinemann, konzipiert und organisiert. Es geschah, kurz nachdem die UNO die Nichtverjährbarkeit von Kriegs- und Menschheitsverbrechen beschlossen hatte.

Haupttäter und »Schergen«

Die westdeutsche Justiz unterschied bei den Tätern grob zwischen »Haupttätern« und »Schergen«. Die »Haupttäter« wurden als eine sehr kleine »hassgesteuerte« psychopathische Spitze des faschistischen Machtapparats beschrieben. Sie waren nach Suizid, Hinrichtung durch die alliierte Justiz oder Flucht in ferne Länder zumeist nicht greifbar und eigneten sich daher gut als Blitzableiter in einer Strategie der Schuldabwehr. Gleichfalls als »hassgesteuert«, ferner als dumm und primitiv, erschienen die den »Unterschichten« zugeordneten »Schergen«. Gemeint waren die Direkt- und Exzesstäter in den Lagern und an den Erschießungsgruben. Auch sie eigneten sich zur Schuldabwehr. Eine sehr breite Mitte von gut qualifizierten, angeblich sachlich distanziert am Schreibtisch Aufträge abarbeitenden Referenten und Referatsleitern fiel aus diesen Konstruktionen von NS-Täterschaft heraus.

Diese Schreibtischtäter bewegten sich in demselben soziographischen Segment wie Staatsanwälte, Richter und Verteidiger. Sie alle teilten die für die gehobenen Mittelschichten und für die Oberschicht charakteristischen Bildungsverläufe und die daraus hervorgehenden mittleren und höheren Leitungsfunktionen. Sie teilten Verhaltensformen (»Lebensart«) und Betrachtungsweisen, darunter auch Überlegenheitsphantasien gegenüber als unterwertig betrachteten Bevölkerungsgruppen mit niedrigem Status. Das ergab einen Bonus der Justiz für Schreibtischtäter, einen Sozialbonus. Beide Gruppen teilten auch eine politische Vorgeschichte. Die Mittelschichten waren die Massenbasis der NSDAP und der DNVP gewesen, den Koalitionspartnern der Regierung Hitler am 30. Januar 1933.

Stereotyp wie die Selbstbilder in der Mitte fielen dort die Fremdbilder von Zeugen aus der Roma-Minderheit, von »Asozialen« oder »Proleten« aus der KPD aus. Die Negativschablonen dort überschnitten sich. Sie ergaben einen Malus.

Ein vergessenes Verfahren

Seit der Befreiung vom Nazifaschismus gab es mehr als 300 westdeutsche Verfahren, in denen die Verfolgung und die genozidale Vernichtung der Roma entweder zusammen mit der Verfolgung anderer Gruppen oder auch als separate Gruppe Thema waren. Das »Sammelverfahren zum ›Zigeunerkomplex‹« von 1958 bis 1970, zu dem mehrere Einzelverfahren zusammengeführt worden waren, ragt dabei nach der ihm zunächst zugedachten Bedeutung, nach der Zahl der Beschuldigten, nach seiner langen Verfahrensdauer und nach seinem Ergebnis heraus. Es war ihm zu seinem Beginn eine hohe Bedeutung zugedacht. Es wurde von den Verantwortlichen neben den »ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess« gesetzt. Dieser fragte vor allem nach der Vernichtung der jüdischen Minderheit durch das Auschwitz-Personal. Während er über ein fachliches Interesse hinaus bis heute selbst im Alltagsdenken präsent ist und immer wieder neu in der akademischen Literatur zum Thema wurde, ist das Sammelverfahren zu den Verbrechen an der Roma-Minderheit, soweit es überhaupt je Aufmerksamkeit erlangte, seit langem völlig vergessen und selbst im fachhistorischen Diskurs nahezu unbekannt. Das passt ganz dazu, dass die Roma-Minderheit als NS-Opfergruppe in der westdeutschen Zeitgeschichte jahrzehntelang gar keinen Platz hatte und dann einen deutlich nachgeordneten erhielt.

In beiden Verfahren begannen die Ermittlungen aufgrund der Initiative von Verfolgten der jeweiligen Minderheit 1958 in Frankfurt am Main. Das Sammelverfahren war bis zu seiner Verlegung nach Köln Ende 1960 also ebenfalls ein »Frankfurter Auschwitz-Prozess«. Hier nun ging es um Angehörige einer Bevölkerungsminderheit, die bereits in den Weimarer Jahren unter Sonderrecht gestellt worden war, was die Historiographie nach 1945 wenig interessierte, zumal die Weimarer Parteien daran beteiligt gewesen waren. Mit einer Ausnahme: der KPD, die von verfassungswidrigem Sonderrecht gesprochen hatte, was aus der west-/gesamtdeutschen Geschichtserzählung bis heute nahezu komplett herausfällt, obwohl die Quellen dazu auf dem Tisch liegen. Das schließt ein, dass Annäherungen und Mitgliedschaften von Sinti und anderen Roma gegenüber und in dieser Partei bestanden hatten, weil sie sich hier verstanden sahen. Das ist nicht zu trennen von der Zugehörigkeit vieler Menschen aus der Minderheit zu den unteren, als »bildungs- und staatsfern« geltenden Schichten, was wiederum vor Gericht vor wie nach 1945 keine Empfehlung war.

Anders als der »erste Frankfurter Auschwitz-Prozess« mit seinem Fokus auf die Mordpraxis in Auschwitz thematisierte das Sammelverfahren zum »Zigeunerkomplex« die Erfassung, die Festnahme, die Entscheidung für entweder eine Sterilisation oder – so zumeist – für die individuelle Vernichtung durch Deportation nach Birkenau in das dortige »Zigeunerfamilienlager«.

Der Ansatz des Sammelverfahrens reichte damit weiter als der des parallelen Auschwitz-Prozesses. Das Sammelverfahren solle, erklärte die Staatsanwaltschaft, »die gesamten nationalsozialistischen Maßnahmen und Gewalttaten gegen die Zigeuner in Deutschland zum Gegenstand« haben. »D. h., die polizeiliche Erfassung aller Zigeuner und sogenannten zigeunerstämmigen Personen, ihre rassische Begutachtung durch besondere Gutachter und ihre daran anschließende Zwangssterilisation oder ihre Einweisung in ein KZ, die häufig (oder in der Regel) den Tod der betreffenden Personen zur Folge hatte.« Die Frankfurter Staatsanwaltschaft ging zunächst von einer möglichen Täterschaft im Rahmen der »Ermittlung von 20.0000 Zigeunern (…) mit dem Ziel ihrer Vernichtung«, sprich von Mord an der gesamten Minderheit aus, reduzierte aber bald individualstrafrechtlich auf einen Verdacht zur Körperverletzung und zur Freiheitsberaubung mit Todesfolge im Amt – eine untere Kategorie bei den Tötungsdelikten – in Einzelfällen. Bei beiden Frankfurter Verfahren bildete nicht das kodifizierte, international gültige Völkerrecht zu »Crimes against humanity« die strafrechtliche Basis, wie ihr Gegenstand es dringend erfordert hätte. Das war inzwischen in Absprache mit den Westalliierten und der Entscheidung für deutschrechtliches Strafrecht unmöglich gemacht worden. Staatsanwälte, Richter und Verteidiger bewegten sich innerhalb der engen Grenzen des deutschrechtlichen Gewohnheits- und Alltagsstrafrechts.

Täter- und Opferprofile

Im Sammelverfahren fragte das Gericht anders als in dem Frankfurter Parallelverfahren nicht nach Direkt- und Exzesstätern, die an einem Tatort körperlich präsent und aktiv gewesen waren, sondern nach Handlungsträgern in einem wissenschaftlich-polizeilichen Komplex. Es ging um einen Tätertyp, der im Reichsgesundheitsamt und vor allem in der dort befindlichen Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle (RHF) und im Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) an einem Schreibtisch saß. Hier wurde über Leben und Tod entschieden, indem jemand als »Zigeuner« oder »Zigeunermischling«, als »gemeinschädlich« oder »kriminell« kategorisiert und – in Absprache mit Tatbeteiligten an Schreibtischen der Unterbehörden – der Sterilisation oder der Deportation zugeführt wurde. Es ging um jene breite Mitte in der Täterhierarchie, die Druck von oben bekam, aber auch Druck nach oben und nach unten machte und dabei nach Konzepten der Aussonderung und Vernichtung entschied, die diese Mitte gegen die Minderheit mitentwickelt hatten.

Das geschah nicht mit Hassreden und ohne körperlichen Einsatz, hatte aber tödliche Konsequenzen für eine sehr große Zahl von Menschen, die von diesen Schreibtischen aus den Aufenthaltsbedingungen und den »Schergen« im »Zigeunerfamilienlager« in Birkenau ausgeliefert wurden.

Die etwas mehr als 70 Beschuldigten des Sammelverfahrens repräsentierten auffällig das schon oben angedeutete Sozialprofil der »besseren Gesellschaft«: höhere Ausbildungsabschlüsse als im Schnitt der Bevölkerung, meist Abitur, das damals höchstens vier Prozent der Bevölkerung absolvierten, nicht wenige promoviert, Ärzte, Juristen, wissenschaftliche Mitarbeiter, Polizeioffiziere oft gehobener Polizei- und SS-Ränge.

An den Schreibtischen in den Büroräumen dieser Rassenhygieniker und der Kripo war ein umfangreicher Datenfundus für Sterilisation und Deportation entstanden. 1960 konnten die Ermittler auf »etwa 20.000 kriminalpolizeiliche Personalakten von Zigeunern« zurückgreifen, die die NS-Kripo verfertigt hatte.

Staatsanwälte und Sachverständige

Der im Sammelverfahren zunächst zuständige Staatsanwalt wurde nach kurzer Aktivität im April 1960 von dem Juristen Fritz Thiede abgelöst, einem im Entnazifizierungsverfahren als »Mitläufer« beurteilten vormaligen Mitglied der NSDAP. Er hatte sich 1950/51 in Frankfurt am Main als Betreiber der »Frankfurter Homosexuellenprozesse« einen Namen gemacht. Mit Hilfe des in Westdeutschland unverändert gebliebenen Naziparagraphen 175 hatte er die homosexuellen Männer der Frankfurter Stadtgesellschaft mit 240 Prozessen überzogen. Mindestens sechs Angeklagte begingen Selbstmord, zwei flüchteten ins Ausland, viele verloren ihre berufliche Existenz, Promotionen und Führerscheine wurden aberkannt. Thiede stützte sich auch auf Gestapo-Akten. Beschirmt wurde er von einem konsequent rechtspositivistischen, von den Nazis verfolgten Oberstaatsanwalt jüdischer Herkunft, Hans-Krafft Kosterlitz, eher eine Ausnahmeerscheinung in der westdeutschen Justiz, aber ins Milieu passend: »Was soll ich denn machen? Die Gesetze sind noch nicht verändert.« Als Staatsjurist jüdischer Herkunft war er zum Aushilfspacker bei der Reichsbahn heruntergestuft worden. Er hatte einen Teil seiner Familie in den Vernichtungslagern verloren.

Im Sammelverfahren endete Ende 1960 Thiedes Rolle mit der Entlassung der Hauptangeklagten Eva Justin, stellvertretende Chefin der RHF, aus dem Verfahren aufgrund von Verjährung, Beweismangel und Verbotsirrtum.

Die Ermittlungen wurden nach Köln verlegt. Thiedes Nachfolger dort war der vormalige NS-Sonderrichter Wolfgang Kleinert, ebenfalls Exmitglied der NSDAP sowie der SA. Das Sondergericht Köln fällte viele Todesurteile. Von einem ist in den Einzelheiten Kleinerts staatsanwaltliche Teilnahme bekannt. Kleinert plädierte auf Hinrichtung und setzte sich damit durch.

Im Sammelverfahren hatte sein Vorgänger Thiede zwei Sachverständige beigezogen, die die Verfolgung der Roma-Minderheit als »kriminalpräventiv« rechtfertigten. Da war erstens der Gerichtsreferendar Hans-Joachim Döring, der seine Dissertation mit »Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat« überschrieben hatte und der über diese Bewerbungsschrift für eine Berufskarriere im Staatsdienst hinaus nie wieder etwas zum Thema schrieb. Ihm war wichtig gewesen, sich an die herrschende Meinung anzuschließen. Da war zweitens der promovierte Medizinalrat und Rassenhygieniker Hermann Arnold, der bis an sein Lebensende die Rassenhygieniker in RHF und Kripo verteidigte. Die Aussage der niederländischen Juristin und Antifaschistin Laura Mazirel zu Döring, er habe die »Tendenz zu ›beweisen‹, dass die Zigeuner nicht wie die Juden aus Rassenwahn verfolgt wurden, sondern weil sie wirklich eine rassisch untaugliche Menschengruppe« seien, treffen in gleicher Weise auf Arnold zu.

Die große Mehrheit der Zeugen war auf der Verfolgerseite tätig gewesen und somit in der Doppelrolle des Tatbeteiligten und des Zeugen. In gleichgerichtetem Handeln verbunden gewesen, trug man nun in aller Regel – soweit man nicht ein Wissen grundsätzlich verneinte oder Erinnerungslücken behauptete – in wechselseitigem Konsens Entlastungsaussagen vor. Die Staatsanwaltschaft befragte nur eine kleine Zahl von Zeugen aus der Minderheit. Einzelne weitere nichtminderheitliche Zeugen unterstützten sie. Mögliche Belastungszeugen galten dem Staatsanwalt entweder als bedeutungslos (»geistig sehr schwerfällig«, »geistig primitiver Eindruck«, »offenbar bemüht, seine Aussagen gegen die Beschuldigten zu färben«) oder wurden völlig ignoriert.

Für das Sammelverfahren wurden auch die Akten eines Verfahrens gegen den inzwischen verstorbenen Leiter der Rassenhygienischen Forschungsstelle, Robert Ritter, genutzt. Geleitet hatte es jener von den Nazis verfolgte Frankfurter Oberstaatsanwalt, der als Rechtspositivist die Rechtsstaatlichkeit der Homosexuellenprozesse mit der Fortdauer der Gültigkeit eines Nazigesetzes begründet hatte. Bei ihm kamen eine deutschrechtliche fachliche Perspektive, eine bürgerlich-elitäre Haltung gegenüber Menschen aus den als ungebildet, als ohne Anstand, als deviant und nicht normtreu geltenden unteren Schichten sowie ein antiziganistisch-rassehygienischer Blick auf die Minderheit zusammen. Das sprach er im Verfahren auch klar aus. »Verbrechensverhütende Maßnahmen gegenüber Asozialen und asozialen Mischlingen« fand er wie »die Verhütung erbkranken Nachwuchses« als »in keiner Richtung zu beanstandende Gedankengänge«. Der Rassenideologe Ritter war für ihn »ein gebildeter Mensch«, dessen »wissenschaftliche Gedankengänge« »in keiner Weise als ausgesprochen nazistisch« zu werten seien. »Zigeuneraussagen« dagegen müssten »grundsätzlich für die richterliche Überzeugungsbildung ausscheiden«.

Er stellte die Ermittlungen ein. Offenbar hatte die Milieuzugehörigkeit in seinem Bildungshorizont einen höheren Stellenwert als die persönliche Erfahrung der Verfolgung durch rassistische Gesetzgeber.

Seine Abwertung von »Zigeuneraussagen« als moralisch und intellektuell defizitär blieb bis mindestens in die 1970er Jahre eine übliche Verhaltensweise von Staatsanwälten und Richtern in den westdeutschen Verfahren zu den Verbrechen an der Roma-Minderheit.

Alles verjährt

Staatsanwalt Kleinert folgte der Linie seines Vorgängers bis zum Abschluss der Ermittlungen. Sie endeten im April 1963. Zu seinen Ergebnissen gehörte, ein »beweissicheres« genozidales Motiv der Deportationen sei nicht nachweisbar und das »Zigeunerfamilienlager« in Birkenau auch zu keinem Zeitpunkt ein Vernichtungslager gewesen. Zwar seien die meisten Insassen des Lagers gestorben, aber das sei eher mit »engem Zusammenleben« bei gruppentypischer »besonders schlechter« Hygiene zu erklären als mit Mordabsichten. Mit Ausnahme von vier Kripooffizieren wurden alle bis dahin Beschuldigten wegen Verjährung, mangels Tatverdachts oder wegen Beweismangels aus den Ermittlungen entlassen. Bei den nicht aus den Ermittlungen entlassenen vier Polizeioffizieren hatte Kleinert den Eingangsverdacht des Mordes heruntergestuft auf Freiheitsberaubung im Amt mit Todesfolge. Bei drei der Polizeibeamten wurde das Verfahren an andere Gerichtsorte überstellt und jeweils dort eingestellt. Der Tatbestand war verjährt.

Seinen Beschluss hatte der Staatsanwalt leicht vermeidbar auf den 20. des Monats gelegt. An diesem Apriltag jährte sich, wie jedem erwachsenen Zeitgenossen bestens bekannt war, der Geburtstag des »Führers«.

Als einziges nicht erledigtes Verfahren verblieb in Köln das gegen Hans Maly, Kripochef und stellvertretender Polizeipräsident in der Bundeshauptstadt Bonn. Hier gab es in einem Fall ein Verjährungshindernis. Daraus ging ein Hauptverfahren hervor, an dem der Angeklagte aufgrund von Verhandlungsunfähigkeit allerdings kaum teilnahm. 1970 wurde daraufhin daher das Sammelverfahren zum »Zigeunerkomplex« ohne ein Urteil endgültig eingestellt. Jene mindestens 20.000 dezentral archivierten Kripoakten, die Kleinert konsultiert hatte, waren oder wurden nun bis auf einen kleinen Rest vor Ort vernichtet. Die lokalen und regionalen Kripoführer hatten erkannt, dass damit der Polizei Gefahren drohten.

Fritz Bauer meinte, das strafrechtliche Ergebnis des ersten Auschwitz-Prozesses sei mit seinen niedrigen Strafen mitunter »einer Verhöhnung der Opfer« nahegekommen. Die mediale aufklärende Wirkung dagegen setzte er hoch an. Im Vergleich damit endete das Auschwitz-Verfahren zum »Zigeunerkomplex« sowohl mit seiner strafrechtlichen wie auch mit seiner öffentlichen Bedeutungslosigkeit rundum als eine aufklärende Parodie auf die westdeutsche »Vergangenheitsbewältigung«.

Literatur

- Ulrich F. Opfermann: Zum Umgang der deutschen Justiz mit an der Roma-Minderheit begangenen NS-Verbrechen nach 1945. Das Sammelverfahren zum »Zigeunerkomplex« (1958–1970), https://t1p.de/Justiz_Roma

- Ulrich F. Opfermann: »Stets korrekt und human«. Der Umgang der westdeutschen Justiz mit dem NS-Völkermord an den Sinti und Roma, Heidelberg 2023

Ulrich F. Opfermann ist Historiker und forscht unter anderem zur Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland und hat dazu zahlreiche Publikationen vorgelegt.

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  • Leserbrief von Gerd Weissmann aus Regesbostel (7. März 2024 um 13:09 Uhr)
    Verwirrung, warum diese Fremdsprache? Genozid bedeutet nichts anderes als Völkermord. Diese harte Beschreibung sollte nach meiner Meinung auch verwendet werden. Der größte Völkermord, hier an den Menschen jüdischen Glaubens, Roma und Sinti, geschehen in Deutschland von Deutschen, ist der Welt größtes Verbrechen!
    Ohne Herrn Opfermann zu nahe zu treten (seine Vita ist lupenrein); aber hier im Text zu Herrn Fritz Bauer fast nur in kleinen Zitaten wie z. B. »ein weißer Rabe« ist bedauerlich. Bauer, selbst Jude, wird so peinlichst behandelt. Es ist schon verwunderlich, dass in dem oben genannten Artikel selten die Bezeichnung Roma und Sinti im Zusammenhang genannt werden. Aber sie gehören zusammen genannt zu werden! Also Roma und Sinti!
    Nochmals zur Geschichte Herrn Fritz Bauer: Nach einem KZ-Aufenthalt in Nazideutschland und 1936 seiner Flucht nach Dänemark und später sein weiterer Fluchtweg nach Schweden. Hier gründete er mit Willy Brandt vermutlich im Jahre 1943 die Zeitschrift Sozialistische Tribüne.
    1949 kehrte Bauer nach Deutschland zurück und wurde 1956 Generalstaatsanwalt mit Sitz in Frankfurt am Main. In seiner Zeit wurden in einem Prozess die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 rehabilitiert. Hauptverantwortlich ist Bauer auch für die Verhaftung von Adolf Eichmann, den Bauer über Umwege von David Ben Gurion
    in Argentinien verhaften ließ.
    Verdient machte sich Bauer auch zur Verhaftung von Auschwitz-Tätern. Seine Aufklärungsarbeit über Naziverbrechen, die er auch dem rheinland-pfälzischen Landesjugendring übergeben wollte, unterband der damalige CDU-Abgeordnete Helmut Kohl (alle Infos aus Wikipedia).
    Opfermanns ausführlichen Darstellungen der NS-Verbrechen aus der Sicht der Nachkriegszeit sollten ergänzt werden durch die Dokumentation über NS-Verbrechen in der Nazizeit von Tilman Zülch, dem Gründer der »Gesellschaft für bedrohte Völker«.
    Er schreibt hierzu im Vorwort: »Ein Kapitel der ›Endlösung‹ im Dritten Reich ist bis heute unbewältigt geblieben: Sie starben in Konzentrationslagern, durch Deportationen und durch Erschießungskommandos der Nazis.«

    Lass maro tschatschepen
    mare sinte.gamle sinte
    hunenn, ho men penepaske hi
    temer djinenna, djinenn` ha-lauta
    ha menge djais an o truschlengero ziro …

    Ihr eigenen Leute liebe Sinte
    Hört was wir zu sagen haben
    Ihr wisst, ihr wisst alle
    Wie es uns in der NS-Zeit ergangen ist …

    Ein Klagelied von Häns´che Weiss
    Aus: In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt, Zülch, Seite 288

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