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Aus: Ausgabe vom 26.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Eine Illusion von Wildnis

Berlinale. Romuald Karmakars Dokfilm über den Zürcher Zoo
Von Ronald Kohl
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Hier bin ich Menschenaffe, hier darf ich sein?

»Der unsichtbare Zoo« ist ein genialer Titel für diesen Film. Es würde mich nicht überraschen, wenn ihn der Zürcher Zoodirektor Severin Dressen, den man in Romuald Karmakars dreistündiger Dokumentation nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommt, selbst ins Spiel gebracht hätte. In einem ausführlichen Interview, das Dressen im vergangenen Jahr dem schweizerischen Fernsehen gegeben hat, bezeichnete er den Masoala-Regenwald als den Ort in seinem Zoo, an dem er als Tier am liebsten leben würde, als irgendein Äffchen, dessen Name ich nicht mehr weiß. Vermutlich beginnt der Film auch deshalb mit einem mehrere Minuten dauernden starren Blick in das naturgetreue Habitat. Wir sehen großblättrige Grünpflanzen und Regen. Mehr nicht. Kein einziges Tier: der perfekte Zoo.

Wer sich besagtes Fernsehinterview angesehen hat, kann zu dem Schluss gelangen, dass Karmakars Dokumentation den Weg zu diesem, wenn auch in der Praxis unerreichbaren, Ziel des »unsichtbaren Zoos« zwar beleuchten, aber nicht unbedingt zeigen will. Zu sehen bekommen wir im Film vor allem einen reibungslos funktionierenden Apparat, ein System, das den Besuchern eine Illusion von Wildnis verschafft.

Weil die meiste Zeit mit absolut statischer Kamera gearbeitet wird, unterscheiden sich die Aufnahmen der Tiere maximal wenig von denen, die die Beschäftigten zeigen, egal, ob es sich nun um die Arbeit der Pfleger handelt oder um die des tiermedizinischen Personals oder um die Konversation auf Leitungsebene. Privates kommt nicht vor. Ob Tier oder Mensch, alle werden von uns lediglich als Zoobewohner gesehen. Was dadurch verstärkt wird, dass es keine Interviews gibt und auch keine Erklärungen aus dem Off. Unsere einzige Informationsquelle ist die Kommunikation der zweibeinigen Protagonisten mit ihren Artgenossen. Zum Beispiel die Gespräche, die von der Personalchefin mit Bewerbern auf die offensichtlich sehr begehrten Plätze als freiwillige Helfer geführt werden. Wer das große Glück hat, wird auch immer nur die Besucher betreuen dürfen – an die Käfige lässt man nur die Profis heran.

Wenn das Wohl der Tiere einen so hohen Stellenwert genießt, mag sich mancher fragen, warum sperrt man sie dann überhaupt ein? Karmakars Film hat darauf keine Antworten. Er stellt nicht einmal die Frage. Er verurteilt genausowenig, wie er verteidigt. Im Fernsehen argumentierte Zoodirektor Dressen, dass in jedem Tier das »Sicherheitsbedürfnis« schwerer wiegen würde als der »Freiheitswille«. Allerdings musste er zugeben, dass das Sicherheitsbedürfnis bei einem Löwen bestimmt keine so große Rolle spielt. Das mag bei Antilopen vielleicht anders sein. Außerdem können sie bedenkenlos mit Giraffen, Gibbons und dergleichen gemeinsam in der neuen Savanne untergebracht werden, deren aufwendige Entstehung wir im Film hin und wieder miterleben. Sind Vegetarier im Zoo also besser dran? – Ja, das sind sie eindeutig, bis sie verfüttert werden.

Wir werden Ohrenzeugen der Tötung eines Zebras. Sobald der Schuss gefallen ist, wird die Kamera vom Stativ genommen. Sie entwickelt plötzlich ein Eigenleben, wird neugierig. Wir sind zwar nicht dabei, wenn dem Zebra nach dem Schuss zum Ausbluten die Kehle durchtrennt wird, sehen aber das Ausweiden, stellenweise Fellabziehen und so weiter.

Schließlich werden die noch deutlich als früheres Zebra erkennbaren Reste den Löwen ins Gehege gelegt. Alle Kinder sehen interessiert zu, wenn sich der König der Tiere daran zu schaffen macht. Wohlgemerkt: alle Menschenkinder, nicht die Löwenbabys. Es stört die kleinen Gaffer auch kaum, dass die Gedärme des Zebras noch immer heraushängen. Die eben noch so besorgt dreinschauenden Eltern brauchen sich nun jedenfalls nicht mehr zu fragen, ob sie ihren Sprösslingen derlei zumuten können. So ein Zoobesuch verrät uns eben doch so manches über die Natur. Zumindest über unsere eigene.

»Der unsichtbare Zoo«, Regie: Romuald Karmakar, BRD 2024, 178 Min., »Forum«

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