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Aus: Ausgabe vom 26.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Cannes ist weit weg

Berlinale.. Nicht auf der Höhe: Die verdienten Gewinnerfilme und die Tristesse der Dutzendware
Von Holger Römers
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Nilpferdmonologe: Nicht immer wurde die Geduld des Berlinale-Publikums belohnt (Szene aus »Pepe«)

Als am Samstag abend die Bären verliehen waren, ließ die kurze Liste der wichtigsten Preisträger den Berlinale-Wettbewerb viel besser – nämlich zugleich abseitiger und glanzvoller – wirken, als er gewesen war. Dass mit »Dahomey« wie im Vorjahr ein Dokumentarfilm den Hauptpreis gewann, rief in Erinnerung, dass diese Filmgattung lange Jahre in der prominentesten Festivalsektion kaum vertreten war. Um so weitsichtiger mochte scheinen, dass der scheidende künstlerische Leiter Carlo Chatrian den Film trotz dessen rekordverdächtig kurzer Dauer von 67 Minuten in den Wettbewerb gehoben hatte.

Wer »Dahomey« gesehen hat, wünscht freilich, dass sich Mati Diop in ihrem zweiten Langfilm mehr Zeit genommen hätte, um die Restitution von 26 Kunstgütern zu beleuchten, die in der Kolonialzeit aus dem heutigen Benin geraubt worden waren. Das gilt um so mehr, als eine den Höhepunkt des Films bildende Debatte beninischer Studenten jene Vielzahl an Positionen andeutet, die das Thema auch aus postkolonialer Perspektive zulässt. Einige nüchtern eingefangene Wortmeldungen stellen denn auch implizit die auffälligste dramaturgische Entscheidung der 1982 in Frankreich geborenen Regisseurin in Frage, einer aus französischen Museumsbeständen überführten Statue eine Off-Stimme zu verleihen – und sie animistisch auf den Status eines Kultgegenstandes festzulegen.

Da Diops Debütspielfilm »Atlantique« 2019 in Cannes ausgezeichnet wurde, mochte die Verleihung des sogenannten Preises der Jury an »L’Empire« erst recht den Trugschluss nahelegen, dass die Berlinale diesmal mit dem weltweit führenden Filmfestival hätte mithalten können. Obwohl der neue Film von Cannes-Liebling Bruno Dumont Science-Fiction irrwitzig parodiert, indem er die Raumschiffe zweier außerirdischer Invasionsflotten den Architekturen der Sainte-Chapelle und des Caserta-Palastes nachempfindet, haben wir es mit einem routinierten Nachtrag zu zwei Miniserien des französischen Filmemachers zu tun, mit denen sein gewohnt spröder zwölfter Spielfilm Drehort und Polizistenfiguren teilt.

Dass nicht nur erstmals ein dominikanischer Filmemacher bei einem A-Festival einen Hauptpreis erhielt, sondern der mit dem Silbernen Bären für die Regie prämierte Spielfilm »Pepe« auch in jeder anderen Hinsicht ein Unikum darstellt, ist indes als Beispiel für jene Tollkühnheit zu werten, die Chatrian während seiner fünfjährigen Amtszeit immerhin vereinzelt bewies. Einzigartig wirkt Nelson Carlos De Los Santos Arias’ dritter Langfilm wegen der Titelfigur: ein Nilpferd, dessen reales Vorbild von Pablo Escobar nach Kolumbien importiert wurde und aus dem Privatzoo des Drogenbarons ausbüxste. Einzigartig wirkt zudem die exzentrische Erzählweise dieses Spielfilms, dessen zentrale Episode um einen versoffenen Flussfischer kreist, der dem Tier bei seiner Arbeit begegnet. Ohne erkennbare Verbindung bleibt derweil ein Auftritt deutscher Afrikatouristen, während als Klammer regelmäßige Off-Kommentare dienen müssen, in denen das Nilpferd mehrsprachig räsoniert –, ohne dass der betont monotone Sprachfluss die Geduld des Publikums durchweg belohnen würde.

Dagegen wäre der einzige rundum überzeugende Wettbewerbsbeitrag wohl auch unter jedem anderen Leiter auf der Berlinale gelaufen – weil Hong Sang-soo seine Spielfilmminiaturen in so kurzem Takt dreht, dass er sie unmöglich alle in Cannes oder Venedig zeigen kann. In dem mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten »Yeohaengjaui pilyo« (»A Traveler’s Needs«) lässt der Koreaner zum zweiten Mal Isabelle Huppert auftreten, wobei ihr Starglanz einen reizvollen Kontrast zu seinen gewohnt billigen Produktionsmitteln bildet. Dass Huppert eine Französin spielt, die ohne Koreanischkenntnisse in Seoul Französisch unterrichtet, hat indes den kuriosen Effekt, dass hier praktisch alle ständig in einer ihnen fremden Sprache – zumeist Englisch – sprechen. So wird beiläufig das zentrale Thema reflektiert: inwiefern sich Gefühle in der von Hong geliebten Sprache der Poesie – beziehungsweise der des Films – ausdrücken lassen.

Mit dem Hauptdarstellerpreis für Sebastian Stan würdigte die Jury schließlich einen Film, der im Wettbewerb völlig aus dem Rahmen fiel: In »A Different Man« erlebt ein unter einer schweren Gesichtsdeformation leidender Amateurschauspieler eine Wunderheilung, die ihn ironischerweise um die Chance bringt, jene Bühnenrolle zu verkörpern, für die er einer Nachwuchsdramatikerin selbst das Vorbild geliefert hat. Dabei sind die Plotkapriolen des von Regisseur Aaron Schimberg verfassten Drehbuchs als nuancierte Reflexionen auf identitätspolitische Fragen zu verstehen – weshalb sich die Unbekümmertheit, mit der der wenig bekannte US-Amerikaner seinen dritten Langfilm lustvoll ins Trashige kippen lässt, auch als Revision jener biederen politischen Korrektheit auffassen lässt, der der Wettbewerb im Vorjahr oft genug Tribut zollte. Um so schmerzlicher macht einem die Wildheit dieses Beitrags freilich jene triste Dutzendware bewusst, mit der Chatrians letzter Berlinale-Wettbewerb aufgefüllt war.

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