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Aus: Ausgabe vom 21.02.2024, Seite 12 / Thema
Ökonomische Probleme

Wachstumsschmerzen

Debatte. Die chinesische Volkswirtschaft leidet an den Problemen einer Überakkumulation.
Von Lucas Zeise
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Geisterstadt mit Eiffelturm. Die in China herrschende Immobilienkrise ist ein markantes Zeichen für Überakkumulation (fast unbewohnte Siedlung in Hangzhou)

Am 4. Januar erschien an dieser Stelle ein Artikel, worin der Autor Marc Püschel argumentiert, die chinesische Volkswirtschaft stehe an einem Scheideweg. Lucas Zeise setzt mit dem nachfolgenden Text die Diskussion über die ökonomische Lage in der Volksrepublik fort. (jW)

Das Wirtschaftswachstum der Volksrepublik China wird geringer. Das ist eine Weisheit, die sich nun seit einigen Jahren bewahrheitet. Es war schlechterdings nicht vorstellbar, dass das Land das seit über drei Jahrzehnte anhaltende Wachstum der Wirtschaft noch weiter würde durchhalten können. Handelsminister Wang Wentao klagte in einer Rede am 26. Januar über das schlechte internationale Umfeld, das eine Wiederholung der rekordhohen Exporte der »neuen Industrien« des Landes 2024 unmöglich erscheinen lasse. Zu den Produkten der neuen Industrien zählen in China E-Autos, Solarenergieprodukte und Lithiumbatterien, deren Ausfuhr in alle Welt im vergangenen Jahr um 30 Prozent auf eine Billion Renmimbi Yuan (etwa 140 Milliarden US-Dollar) kletterte. Die Batterieproduktion in China hat sich im vergangenen Jahrzehnt verzehnfacht. Die USA und die EU haben darauf mit Einfuhrbeschränkungen reagiert, was dazu beitrug, das Handelsdefizit der EU mit China von einem 2022 erreichten Rekord von 400 Milliarden Euro auf »nur« 300 Milliarden Euro zurückzuführen.

Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds haben China für das laufende Jahr ein Realwachstum von viereinhalb Prozent vorhergesagt (nach knapp über fünf Prozent im vergangenen Jahr) und sie rechnen auch damit, dass sich das Wirtschaftswachstum weiter verlangsamt. Die Ökonomen in China widersprechen dem nicht. In den 15 Jahren zwischen 1992 und 2007 erzielte China Wachstumsraten zwischen acht und 14 Prozent. Zwischen 2008 und 2019 lagen sie zwischen sechs und zehn Prozent. Dann kam der Einbruch im Zusammenhang mit der Covid-19-Epidemie. Danach gab es nur noch ein Jahr (2021) mit einem Wachstumsschub wie in früheren Zeiten. Die Jahre 2022 und 2023 verliefen enttäuschend. Anders als früher wurde schon im 14. Fünfjahresplan für die Jahre 2021 bis 2025 keine Wachstumsraten des BIP (Bruttoinlandsprodukt) mehr vorgegeben, schreibt Marc Püschel in seinem Aufsatz vom 4. Januar. Allerdings rechnet die Regierung im laufenden Jahr mit einem Plus des BIP von etwa fünf Prozent.

Immobilienkrise und Deflation

»Die durch Immobilienkrise, Überschuldung, Arbeitslosigkeit und Deflation gebeutelte Volkswirtschaft verlangsamt ihr Wachstum deutlich«, stellt Püschel fest. Das sind Probleme der inneren Verfassung der chinesischen Wirtschaft, zu denen man getrost die enormen Überkapazitäten im Land zählen sollte. Die durchschnittliche Kapazitätsauslastung hatte schon 2018 nur noch 64 Prozent betragen, in der Schwerindustrie sogar unter 60 Prozent. Die Überproduktion von Glas, Zement und Stahl ist sehr hoch. Entsprechend sinken die Produzentenpreise seit 16 Monaten. Der Index der Verbraucherpreise liegt seit Juli 2023 unter dem Niveau des Vorjahres.

Ein markantes Zeichen für die Überakkumulation ist die Immobilienkrise. Sie äußert sich in leerstehenden Wohnblocks, halb fertiggebauten Geschäftsvierteln, Einkaufszentren und Büroblocks und in der Pleite der riesenhaften Bauträgergesellschaften Evergrande und Country Garden. Das Geschäftsmodell dieser Bauträgergesellschaften besteht darin, von diversen Lokalregierungen Land zu erwerben, darauf Wohnungen und Häuser zu bauen, und sie vor der Fertigstellung an das gemeine Volk zu verkaufen. Solange die Preise für Immobilien steigen, ist das für Wohnungskäufer und -verkäufer erfreulich. Der Kauf von Bauland von Städten, Gemeinden und Provinzen auf Kredit macht sich später bezahlt. Das Tempo der Entwicklung kann gesteigert werden, wenn die Wohnungen vorab bezahlt werden, und die Wohnungskäufer werden mit dem Anstieg des Preises für ihre Immobilie belohnt, während sie die Schulden dafür abzahlen. Eine Win-win-Situation also, wie sie in boomenden Märkten üblich ist.

Aber schon seit einigen Jahren zeichnet sich das Ende des langen und sensationellen Aufschwungs der chinesischen Immobilienwirtschaft ab. Die Bevölkerung wächst nicht mehr. Die Zuwanderung vom Land in die Stadt ist praktisch abgeschlossen. Bereits 93 Prozent der Haushalte in China verfügen mittlerweile über eigenes Wohneigentum. Die Regierung, die Finanzaufsicht und die Notenbank beklagen den schuldenfinanzierten Boom des Immobiliensektors. Sie versuchen offensichtlich einen Mittelweg zwischen einer Kapital und Gläubiger schonenden Abwicklung und einem marktwirtschaftlichen Kladderadatsch zu finden. Staats- und Parteichef Xi Jinping hatte sich auf dem Parteitag 2017 mit den gewichtigen Worten beschwert: »Häuser sind zum Wohnen da, nicht für die Spekulation.« Die Zentralregierung hat neben den Immobilienkonzernen auch die Provinz- und Gemeinderegierungen im Blick. Diese betreiben Fonds, die große Infrastrukturprojekte in Angriff nehmen, finanzieren und sich damit verschulden. Um diese Schulden zu bedienen, verkaufen die Fonds Bauland an die Immobilienfirmen wie Evergrande. Ob dem Wettbewerb der Provinzen um die größten Projekte nun Einhalt geboten wird, bleibt aber zweifelhaft.

An dieser Stelle ist ein kleiner Einschub geboten. In der Volksrepublik ist Privateigentum an Grund und Boden – sozusagen aus sozialistischer Tradition – verboten. Die Reformen begannen 1978 auf dem Land, ohne den Grund und Boden zu privatisieren. 1983 wurden Landnutzungsrechte eingeführt, die man käuflich erwerben konnte. Der Handel und die Spekulation mit Grund und Boden bezieht sich formal also nicht auf die Sache selbst, sondern nur auf die Nutzungsrechte, beispielsweise, um auf dem formal immer noch staatlichen Grund und Boden Reisanbau zu betreiben oder Fabriken, Wohnanlagen und Einkaufszentren zu errichten oder eben die Nutzungsrechte zu höheren Preisen weiterzuverkaufen. Verkäufer dieser Nutzungsrechte sind die lokalen staatlichen Stellen, konkret die oben erwähnten Fonds der Gemeinden, Städte und Provinzen. Auf dieser Grundlage allen Bodens in Staatsbesitz entstand der munterste, manche sagen der weltweit größte Spekulationsmarkt mit Immobilien.

Vom Neoliberalismus begünstigt

Die mit mehr als drei Jahrzehnten Dauer außergewöhnlich lange Phase hohen Wachstums in China hat auch sehr viel mit den äußeren Bedingungen zu tun. In den 1980er Jahren trat die kapitalistische Weltwirtschaft in eine Phase ein, die als Neoliberalismus zu bezeichnen wir uns heute angewöhnt haben. Sehr kurz gesagt bedeutete das eine Erhöhung der Profitrate der monopolistischen Konzerne auf Kosten der Beschäftigten. Nationale Schutzschranken für den Warenhandel und den Kapitalverkehr wurden systematisch abgebaut, um stärkere Kapitale zu bevorzugen und die Monopolisierung voranzutreiben. Die transnationalen Konzerne bauten zunächst in den Industrieländern, nach 1989/90 auch in den Ländern der »zweiten« und »dritten« Welt im Rahmen der sogenannten Globalisierung Produktionsverbünde auf. Damit gelang es, Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen billig einzukaufen und die Früchte des Produktivitätsfortschritts vollständig der Kapitalseite zukommen zu lassen. Schließlich entstand im Zentrum des neoliberalen Modells ein rasant und immer schneller wachsender, überdimensionierter Finanzsektor. Er ist Resultat der ungleicher werdenden Einkommensverteilung, da die wachsenden Profitmassen in den Händen der Wenigen in Anlagen außerhalb der Produktionssphäre drängen. Umgekehrt gelang es, über die Spekulation im Finanzsektor die Kapitalrendite weiter zu erhöhen. Da unter diesen Umständen die Lohneinkommen real stagnieren oder allenfalls geringfügig wachsen, müsste eigentlich die Akkumulation ganz besonders rasch an die Grenze der zu geringen Konsumption/Endnachfrage stoßen. Tatsächlich aber fand das neoliberale Regime Methoden, um einer großen Überakkumulationskrise zu entgehen.

Der wichtigste Einzelfaktor zur Vermeidung oder besser Verschiebung der eigentlich fälligen großen Überakkumulationskrise war die geographische Expansion des Kapitalismus. China öffnete sich in den 1980er Jahren dem kapitalistischen Ausbeutungssystem, die Sowjetunion hörte 1991 auf zu existieren, deren Nachfolgestaaten sowie die vormaligen Volksdemokratien wurden unter Anleitung des Westens kapitalistisch. Es bildete sich ein internationales Wirtschaftsmodell heraus, in dem die alten entwickelten kapitalistischen Länder (in Nordamerika, in Europa und Japan) Kapital exportierten, die Länder Ost- und Südasiens Produktionskapazitäten aufbauten und die produzierten Waren vorwiegend in die kapitalistischen Zentren exportierten. Dort fand in unterschiedlichem Maße eine Deindustrialisierung statt, während sich der Finanzsektor stark ausweitete. Grundlage für diesen Prozess, freundlich Globalisierung genannt, war der erhebliche Abstand der Reallöhne, der dieses weltweite Geschäftsmodell für die beteiligten Kapitalisten lohnend machte. Im Zentrum dieses friedlichen Globalmodells stand die ungleiche, aber aufeinander bezogene Entwicklung der heute wirtschaftlich größten Nationen des Globus, der USA und Chinas. Dabei haben die USA durch ihre kreditfinanzierte, stetig wachsende Nachfrage die Weltkonjunktur in Schwung gebracht und gehalten. Nicht nur China war im jüngsten Weltwirtschaftsaufschwung vor der Finanzkrise 2007 auf den Nachfragesog aus den USA angewiesen. Viele Länder profitierten davon, dass im reichsten Land der Erde eine scheinbar unerschöpfliche Nachfrage bestand.

Die kapitalistische Akkumulation in Ost- und Südasien, einschließlich Chinas, erreichte ihren Höhepunkt in den 1990er und frühen 2000er Jahren. Neben Festlandchina nahmen daran teil: Südkorea, Taiwan, das bis 1997 britische Hongkong, Thailand, Vietnam, Malaysia, Singapur, die Philippinen und Indonesien. Die Verhältnisse in allen diesen Ländern waren und sind ökonomisch und politisch sehr unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen, dass sie im Westen offene Märkte für die damals noch relativ schlichten Industrieprodukte vorfanden. Die Fabriken, in denen produziert wurden, gehörten meist einheimischen Kapitalisten. Gleichzeitig fand ein reger Kapitalimport statt, vorwiegend aus dem Westen (einschließlich Japans), besonders aber aus den USA. Die Beteiligung westlichen Kapitals hatte für diese »Tigerstaaten« nicht nur den Vorteil, dass sie technisch aufholen konnten, sondern auch den, dass der westliche Kapitalismus ein Eigeninteresse daran hatte, die Einfuhr ostasiatischer Produkte offenzuhalten. Die sogenannte Asienkrise 1997 unterbrach den Aufschwung. Sie bestand darin, dass sich kurzfristig engagiertes Kapital zunächst aus Thailand und dann aus den anderen genannten Ländern zurückzog. Die Abhängigkeit gegenüber kurzfristig agierenden Investoren wurde deutlich. China allein stand wie ein Fels in der Brandung. Die Beschränkungen des Kapital- und Geldverkehrs mit dem Ausland (sie sind nicht strikter als die in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre) ließen einen schnellen Kapitalabfluss nicht zu.

Statt dessen häufte die chinesische Zentralbank im Lauf des langen Exportbooms ungeheure Mengen an Devisenreserven an, die vor Ausbruch der Finanzkrise von 2007 die unglaubliche Summe von knapp sechs Billionen US-Dollar erreichten. Sie entstanden, weil die Exporteure für die ins Ausland gelieferten Waren ausländische Währung, also überwiegend US-Dollar erhielten, und sie über ihre Hausbank bei der Zentralbank in chinesische Renminbi Yuan eintauschen mussten. Bei laufend hohen Exportüberschüssen kommen da einige Summen zustande. Auch bei Eingriffen am Devisenmarkt, um die eigene Währung abzuwerten, erhält die Zentralbank Dollar/Fremdwährung, wenn sie Renminbi Yuan verkauft. Der größte Teil der Reserven wird dabei in Form von Staatsanleihen der USA gehalten. Das heißt, der chinesische Staat beteiligt sich an der Finanzierung der Vereinigten Staaten. Mitte der 2000er Jahre war die chinesische Zentralbank der größte Einzelgläubiger Washingtons. Anders ausgedrückt, China beteiligte sich ganz wesentlich an der Finanzierung des hohen, laufenden Handels- und Leistungsdefizits der USA.

Die große Finanzkrise der Jahre 2007 und 2008, die eine Krise des Banken- und Kreditsystems vor allem der USA war, beendete dieses scheinbar harmonische Zusammenspiel der größten Volkswirtschaften der Welt. »Beendete« ist ein zu starkes Wort, »trübte« ist wahrscheinlich treffender. Die USA halbierten ihr jährliches Handelsdefizit. Der freie Fluss von Waren- und Kapitalströmen des Neoliberalismus wurde nicht mehr uneingeschränkt gepriesen. Donald Trump stellte fest, dass die USA deindustrialisiert werden und gab China die Schuld. In der Folge eröffnete er Handelskriege. Für China sind jedenfalls die goldenen Zeiten des Exportbooms vorbei. Die Devisenreserven der Zentralbank haben sich beinahe halbiert. Sie sind allerdings immer noch mehr als üppig.

»Mischung aus Markt und Plan«

Die chinesische Volkswirtschaft befindet sich also bereits jetzt in einem Zustand der Überakkumulation, der für die altkapitalistischen Länder bereits seit mehr als hundert Jahren üblich ist. Der Ausweg des verstärkten Kapitalexports wird mit oder ohne das Projekt »Seidenstraße« daran nur phasenweise etwas ändern. Püschel verweist in seinem Aufsatz auf aktuelle Krisenerscheinungen und charakterisiert das chinesische »Wirtschaftsmodell« als »eigentümliche Mischung aus Markt- und Planwirtschaft unter Herrschaft der KP«, das aktuell »zusehends in die Krise« gerate. Planwirtschaft funktioniere gut bei öffentlichen Investitionen und staatlich bestimmtem Konsum, während der Markt zwar verschwenderisch, aber effektiv in der Lage sei, individuellen Bedarf und Konsumwünsche zu befriedigen. Sein Rat an die chinesischen Wirtschaftslenker lautet daher, es mit einem grundlegenden »Wandel im Verständnis von Konsum« zu versuchen, »weg von dem westlichen Verständnis, dass Konsum immer in Form des Kaufs einzelner materieller Güter durch einzelne Individuen besteht«. Andernfalls würde, so Püschel, »eine völlige Neuausrichtung der Volkswirtschaft hin auf individuellen Konsum (…) die Privatwirtschaft über Gebühr stärken. Letztlich würde China damit zu einer gewöhnlichen kapitalistischen Nation.«

Püschels Rat ist ehrenwert. Aber er ruht etwas unsicher auf einer Reihe von Missverständnissen. Erstens ist der Schwenk der chinesischen Wirtschaftsstrategie weg von der Förderung der Exportwirtschaft und hin zur Förderung der Binnennachfrage (und des Konsums) zwangsweise erfolgt, als im Gefolge der großen Finanzkrise 2007/08 die Nachfrage nach chinesischen Produkten und Vorprodukten aus den altkapitalistischen Ländern (ganz besonders der USA) einbrach. Der Export Chinas fiel 2009 um ein Viertel. Die Außenhandelsquote (der Anteil des Außenhandels an der gesamten Wirtschaftsleistung) hatte in den Jahren 2004 bis 2008 den Rekordwert von 60 Prozent erreicht und halbierte sich seitdem auf für ein Land dieser Größenordnung immer noch hohe 30 Prozent. Der »Plan«, besser das Versprechen, die Binnennachfrage zu stärken, fußte realistisch auf dem allgemein gestiegenen Lohnniveau. Die Stärkung der Gesundheits- und Altersvorsorge, die das für Konsumausgaben übrige Einkommen der Lohnabhängigen anheben sollte, blieb jedoch weitgehend aus. Die Binnennachfrage als Gesamtaggregat wurde statt dessen vor allem durch das Vorantreiben von Infrastruktur- und Bauprojekten gefördert.

Grundlegender ist Püschels Gegenüberstellung von Markt und Plan. Sie hat Tradition, was sie deshalb nicht richtiger macht. Fertigungsablaufplanung und Personalplanung sind etablierte Unterfächer der kapitalistischen Betriebswirtschaftslehre. Die Monopole betreiben per definitionem Marktplanung, da sie nicht »Preisnehmer« sondern Gestalter ihrer Märkte sein wollen. Die von Kommunisten in Berlin, Paris und Moskau entwickelte Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus (in Westdeutschland »Stamokap« genannt) schildert geradezu liebevoll, wie von Finanzkapital und Staat gemeinsam gesamtgesellschaftliche Planung in kapitalistischen Marktwirtschaften im Interesse der heimischen Monopole betrieben wird. Die Theorie muss heute um ein Kapitel ergänzt werden, um darzustellen, wie im Zeichen des Neoliberalismus Märkte geplant und gesteuert werden. Der blühende Handel mit Strom, Verschmutzungs- und Nutzungsrechten oder Fallpauschalen im Gesundheitssektor bietet mittlerweile berüchtigte Beispiele.

Modell »Stamokap«

Püschels »historisch einzigartige Mischung aus Markt- und Planwirtschaft« in China ist alles andere als einzigartig. Im Gegenteil, das im Westen erprobte Modell »Stamokap« funktioniert in China ebenfalls. Die Führung der KP trifft sich mindestens so häufig mit den Lenkern und Eigentümern der Großkonzerne (zumal diese auch meist Parteimitglieder sind) wie sich in Deutschland die politische Führung mit den Lenkern der Industriemonopole, Banken und Kapitalverbände mal vertraulich, mal öffentlich berät. Dass große und bedeutende Monopole (Banken, Energieversorgung, Schwerindustrie, Bau) in China noch Staatseigentum sind, ändert am Charakter der Wirtschaftssteuerung nichts. Entscheidend ist die Herrschaft des Profitprinzips. Sie gilt in China genauso wie in den altkapitalistischen Ländern. Das ist kein Geheimnis, sondern erklärte Politik der Kommunistischen Partei.

Ähnlich wie im Westen der herrschende Kapitalismus mit beschönigenden Ausdrücken beschrieben wurde und wird (in Westdeutschland »freie« oder noch besser »soziale Marktwirtschaft«) wird in China die Bezeichnung »Sozialismus chinesischer Prägung« von der KP Chinas einschließlich des Präsidenten des Landes, Xi Jinping, für die herrschende Produktionsweise verwendet. Sie verwischt gezielt den wesentlichen Unterschied, nein Gegensatz zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Das ist kein Gegensatz zwischen Markt und Plan, sondern der Gegensatz zwischen der Existenz von Kapital, das durch Ausbeutung der Arbeitskraft sich selbst vermehrt, und der Abwesenheit von Kapital. In einer Beilage der Marxistischen Blätter zu »Fünfhundert Jahre Sozialismus aus chinesischer Sicht« (4/2021) erläuterte Cheng Enfu, Mitglied der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, dass der »Sozialismus chinesischer Prägung« anders als bei Marx und Engels auch nichtöffentliches Eigentum an den Produktionsmitteln zulasse und dass die Verteilung einerseits für die Arbeiter über den Arbeitsmarkt entsprechend geleisteter Arbeit (Lohn) und andererseits für die Kapitalisten entsprechend dem Kapitaleinsatz erfolge.

Das ist auch theoretisch die Aufgabe des Ziels, den Kapitalismus zu beseitigen. Anders, als Xi und Cheng meinen, ist Sozialismus eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die das kapitalistische Privateigentum an den Produktionsmitteln überwindet und diese Produktionsmittel vergesellschaftet, das heißt in Gemein- und Volkseigentum überführt. Kapitalismus ist eine Gesellschaftsordnung, in der die Ausbeutung freie Bahn hat, in der das produziert wird, was am meisten Profit verspricht und in der der Markt die Verteilung zwischen den Kapitaleigentümern entsprechend deren Kapitaleinsatz regelt. Man verzeihe diese vielleicht dogmatisch wirkende Abschweifung. Sie ändert nichts an der fälligen Bewunderung für die historisch einmalige rasante Entwicklung Chinas von einem armen, rückständigen und unterdrückten Land zu einer führenden kapitalistischen Nation.

Zur aktuellen Lage hier zwei Schlussfolgerungen: Erstens: Das enorm schnelle Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte lässt sich nicht fortsetzen. Das führt zu Wachstumsschmerzen. Zweitens: China wird von der laufenden ökonomisch-politischen Krise der Weltwirtschaft voll erfasst. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das Land sich dem entziehen kann oder dass die politische Führung eine Strategie zum Ausweg aus dem Kapitalismus (oder auch nur aus dem Neoliberalismus) hat oder auch nur vorbereitet.

Von Lucas Zeise erschienen an dieser Stelle zuletzt am 25. Juli 2022 »Anmerkungen zur Weltlage unter Berücksichtigung der jüngeren Geschichte«.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ralf K. aus Berlin (22. Februar 2024 um 08:21 Uhr)
    Zur Frage Sozialismus und kapitalistische Unternehmen macht es sich Zeise m. E. zu einfach. Marx schreibt: »In allen Gesellschaftsformen ist es eine bestimmte Produktion, die allen übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen Rang und Einfluss anweist. Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert. (…) Das Kapital ist die alles beherrschende ökonomische Macht der bürgerlichen Gesellschaft.« (MEW 13, S. 637f.) Es ist aber nicht die einzige ökonomische Form, sondern die dominierende, darauf kommt es an. So wenig, wie kapitalistische Produktion Subsistenzproduktion völlig verdrängen kann, ebenso wenig wird sozialistische, also gemeinwirtschaftliche, demokratisch geplante und gesteuerte Produktion alle »niedrigeren« Formen der Produktion verdrängen. Demokratische Rahmensetzung und die Dominanz sozialistischer Eigentumsformen und Verhältnisse drückt aber auch diesen Produktionen ihren Stempel auf, bestimmt die Bedingungen, unter denen sie stattfinden. So wie es im Kapitalismus verschiedene Produktionsweisen und Eigentumsformen (auch öffentliche Unternehmen, gemeinwirtschaftliche, Genossenschaften, kleine nichtkapitalistische Privatproduktion usw.) gibt, so wird es auch im Sozialismus eine Kombination verschiedener Produktionsweisen und Eigentumsverhältnisse unter der Dominanz vergesellschafteten Eigentums und demokratischer Steuerung und Planung geben müssen. Es existiert zunächst weiterhin ein großer Bereich privater, mehr oder weniger kapitalistischer, kleiner und mittlerer Unternehmen, die auch gute Entwicklungsmöglichkeiten brauchen. Das ist auch eine Lehre aus den Erfahrungen der DDR. Daraus folgt nicht, China sei schon Sozialismus, dazu sind die kapitalistischen Unternehmen, Ausbeutung und Ungleichheit zu groß. Aber der Staat und öffentliche Unternehmen sind viel stärker als im Westen. Es ist eine Übergangsformation, mit dem Risiko, dass es auch in die falsche Richtung geht.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (21. Februar 2024 um 14:14 Uhr)
    Lucas Zeise ist ein kluger und lesenswerter Beitrag zu aktuellen linken Debatten um die weitere Entwicklung Chinas gelungen. Er beachtet auch – anders als viele andere Autoren – dass alle Veränderungen in einem so großen Land mit seiner riesigen Bevölkerung natürlich widerspruchsvoll verlaufen müssen. Manch einer meint nämlich, dass schon die Existenz einzelner Widersprüche von vornherein bedeuten würde, dass die von der KPCh angestrebten Ziele grundsätzlich nicht erreichbar seien. Wir sollten immer im Hinterkopf haben, wie lange es dauern könnte, bis das einstige Armenhaus der Welt einen Entwicklungsstand erreicht hat, dass ein Übergang zum Sozialismus überhaupt möglich wird. Dieser Übergang wird in China wohl nicht wesentlich schmerzärmer verlaufen als in anderen hochentwickelten Ländern dieser Erde. Nur deshalb daran zu zweifeln, dass er stattfinden könnte, weil uns die geschichtlichen Wege dazu noch unbekannt erscheinen, wäre geschichtspessimistisch. Noch immer hat die Menschheit auch komplizierteste praktische Veränderungen dann meistern können, wenn die Probleme objektiv und subjektiv ausreichend reif für eine Lösung waren. Auch die größte Ungeduld ändert nichts an der Tatsache, dass erst die Bedingungen reifen müssen, bevor revolutionäre Umschwünge wirklich erfolgreich sein können.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Harald H. aus Hamburg (21. Februar 2024 um 10:32 Uhr)
    Trotz unbestreitbarer Fortschritte bei der Beseitigung von Armut und der positiven internationalen Rolle der VR China, bleibt die Frage, ob die (wachsende) Anzahl chinesischer Milliardäre und deren Besitz an den Produktionsmitteln nicht das Ergebnis der Ausbeutung der chinesischen ArbeiterInnenklasse ist – eventuelle Erbschaften werden es wohl nicht sein! Vielen Dank für den großartigen Artikel von Lucas Zeise!
  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (21. Februar 2024 um 10:26 Uhr)
    In meiner Stellungnahme betone ich, dass die vorliegende Analyse die Herausforderungen der chinesischen Wirtschaft zwar kritisch betrachtet, jedoch möglicherweise etwas übertrieben. Dennoch ist zu betonen, dass die chinesische Führung bisher geschickt auf Herausforderungen reagiert und sowohl politische als auch wirtschaftliche Strategien erfolgreich angepasst hat. Der laufende Übergang von einer exportorientierten zu einer binnennachfrageorientierten Wirtschaft sowie verstärkte Investitionen in Binnenkonsum, Innovation und Technologie sind bereits im Gange. Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass das demographische Defizit eine entscheidende Rolle spielen könnte. Es bleibt abzuwarten, ob China seine aktuellen ökonomischen und geopolitischen Herausforderungen friedlich bewältigen kann. Ein verwickelter Krieg könnte jedoch eine potenzielle Bedrohung für den weiteren Erfolg Chinas darstellen. Ich wünsche den chinesischen »Marxisten« Erfolg bei der Verwirklichung einer menschenwürdigen Marktökonomie, was uns Osteuropäern unter sowjetischer Herrschaft in Ungarn und der Tschechoslowakei verwehrt wurde. China kann man nur mit einem verwickelten Krieg vom weiteren Erfolg aufhalten!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (20. Februar 2024 um 21:54 Uhr)
    Gut gebrüllt, Löwe! Endlich einer, der sich zum Fenster hinauslehnt und provokante Sätze schreibt. Mit zweitausend Leserbriefzeichen kann man nicht auf Details eingehen. Also von hinten: »Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die politische Führung (…) eine Strategie zum Ausweg (…) hat oder auch nur vorbereitet.« Diese Behauptung halte ich für apodiktisch, sie passt auch nicht zu der recht differenzierten Argumentation im überwiegend nicht »dogmatisch wirkenden« Artikel. Leider weiß ich nicht, was Xi und Cheng meinen. Insbesondere ob sie »Sozialismus« als »Zustand« oder als »Prozess« interpretieren, ich vermute letzteres. Gewisse reale, pragmatische Entwicklungen, z. B. in Kuba, deuten darauf hin, dass Markt und Privateigentum den Übergang (?!) zum Sozialismus begleiten. Ich würde mich über eine Diskussion zum dogmatischen oder pragmatischen Charakter gewisser Marx-Engels-Rezeptionen und ob historische Epochen »überspringbar« sind, in der jW freuen! PS: Die chinesische Führung hat schon ziemlich oft gezeigt, wie schnell, flexibel und konsequent sie reagieren kann. Die Bewunderung westlicher Regime hat ihr das nicht gebracht.

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