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Aus: Ausgabe vom 21.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Musik

»In meiner Musik steckt viel Hoffnung«

Über Wege zum Sozialismus und sein neues Album »El Buen Vivir«. Ein Gespräch mit Pablo Miró
Von Katja Koschmieder
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»Die Empörung wächst«: Pablo Miró auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz, Berlin 14.1.2023

Mit Ihrem Album »El ­Buen Vivir – Das gute Leben« wollen Sie die »alten Weisheiten in neuen Liedern erklingen« lassen und thematisieren zum Beispiel Pachamama, Mutter Erde. Wo ist der Unterschied zwischen den mythischen Ansätzen der Urvölker Lateinamerikas, auf die Sie sich berufen, und dem esoterischen Lifestyle frustrierter europäischer Mittelschichten?

Der Unterschied ist gravierend. Buen Vivir bedeutet Verantwortung tragen für meine Mitmenschen und die Natur. Diese Verantwortung drückt sich in politischem Handeln aus. Das Buen Vivir fordert Engagement. Dieses Engagement ist verwurzelt in einer inneren Spiritualität, die uns einlädt, zu unserem herzlichen Gemeinschaftssinn zurückzufinden. So wie die Befreiungstheologie Brasiliens sich gegen die brutale Klassengesellschaft eingesetzt hat, leider ein eher seltenes Beispiel aus den traditionellen Religionen, durchflutet das Buen Vivir den Widerstand gegen Neoliberalismus in Südamerika. Diese Mitmenschlichkeit, diese Empathie zueinander und zur Natur bedeutet, beides zu beschützen.

Aufklärung beruft sich darauf, dass Verstand und Vernunft die wichtigsten Grundlagen menschlichen Handelns sein sollen. Behindert der Bezug auf religiöse oder mythische Erklärungsansätze nicht geradezu konkretes, zielgerichtetes Verhalten?

Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil! Dem Leben, der Natur, der Gemeinschaft dankbar gegenüberzustehen, sich in ihr zu erkennen, stärkt die Identität des Individuums, stärkt seine Liebe zu seiner »comunidad«, zu Tieren, Bergen, Tälern, Flüssen. Die Natur und ihr Reichtum gehören der Gemeinschaft und nicht privaten Interessen. Die Regierungen Ecuadors und Boliviens haben das Ziel des Buen Vivir als Verfassungsgrundsatz festgeschrieben. Es heißt dort, dass eine Wirtschaftsordnung angestrebt wird, die Grundsätze wie Solidarität und Gegenseitigkeit berücksichtigt und in der sich der Staat verpflichtet, die erzielten Überschüsse umzuverteilen. Bolivien hat das »Gute Leben« als Grundlage einer für Südamerika vorbildlichen Entfaltung von gerechter Umverteilung, von Verstaatlichung wesentlicher Produktionsbereiche, von Antiprivatisierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel des Lithiums – was 2019 zum Putsch durch Jeanine Áñez führte. Und Brasilien hat die höchste Wachstumsrate und niedrigste Inflation ganz Südamerikas. Konkreter geht es gar nicht.

Was ist das Sozialistische dieses Ansatzes? Worin gründet die Hoffnung, die Sie mit Ihrer Musik verbreiten wollen?

Das Buen Vivir sucht Glück und Wohlbefinden von Mensch und Natur. Es gibt genug für alle, ewiges Wachstum ist Wahnsinn, wir brauchen nicht mehr, sondern müssen umverteilen. Das Leiden von Menschen oder Natur beeinflusst die Harmonie des Ganzen. Keiner darf zurückbleiben, auch die Natur nicht. Die Geschichte wird nicht linear verstanden, sondern zyklisch. Dem Buen Vivir nach befinden wir uns in einem neuen Zyklus, »Pachacuti«. »Tama«, das Wasser, ist die Milch unserer Mutter Erde, die wir alle trinken und die uns zu einer großen Familie macht. Das mag naiv klingen, ist aber weit davon entfernt es zu sein: Die Errungenschaften Boliviens sind Beweis genug, dass die Umsetzung des Buen Vivir in Wirtschaft und Politik einen möglichen Weg zum Sozialismus darstellt. Heutzutage sind die Ärmsten, Colla und Aymara, Studierende und Frauen in Führungspositionen, Bodenschätze und die Hauptbranchen der Wirtschaft in staatlichen Händen. In meiner Musik steckt viel Hoffnung und Lebensfreude. Die Welt wird multipolar, die imperiale Vormacht schwächer, die Empörung wächst, der Wandel ist stets möglich und es gilt weiterhin: »¡El Pueblo unido jamás sera vencido!«

Sie spielen vor allem für ein europäisches Publikum. Inwiefern beeinflusst das Ihre Musik?

Mit meinem Trio werden wir am 2. März meine neuen Songs und Kompositionen in deutscher und spanischer Sprache interpretieren. Im Song »Confesión« (Geständnis) singe ich: »Ich habe kein Gesicht, nur meine Gitarre und Stimme (…) ich bin von hier und von dort, alles, was ich brauche, ist mein zeitloses Herz.« Meine Klangwelt besteht aus zwei Welten, die südamerikanische und die europäische. Das bin ich, das ist meine Identität. Enkelkind von geflüchteten deutschen Juden, Sohn einer Argentinierin. Entsprechend ist mein Klanguniversum.

Den »Song for Julian Assange« vom neuen Album haben Sie bereits auf dem von jW veranstalteten Konzert für Víctor Jara im September 2023 im Kino Babylon vorgestellt. Inwiefern passt das zum »Buen Vivir«-Thema des Albums?

Wie schon erwähnt, im Buen Vivir geht es um ein harmonisches Miteinander, mit Natur und deren Schutz. Widerstand ist Teil dieser Lebensweisheit. Im ­Chile des angeblichen Sozialisten Gabriel ­Boric befinden sich viele indigene Mapuche in Gefangenschaft. Nebst den 56 Millionen während der Kolonisierung ermordeten Indigenen, wurden in den letzten Jahren in Südamerika Hunderte indigene Anführer ermordet und inhaftiert. Dem Mut zum Widerstand widme ich viele meiner Kompositionen. Meinen letzten Song schrieb ich für die Familien in Gaza, »Dringender Song für Palästina«. Der Mutigste unter uns allen ist Julian. Dazu El Buen Vivir: »Nur wer rechtzeitig weiß, kann rechtzeitig handeln.«

Pablo Miró ist Musiker und Liedermacher. Er lebt in Berlin

CD-Releasekonzert am 2. März 2023, 20 Uhr, Ufa Fabrik, Viktoria­str. 10, Berlin,

www.ufafabrik.de

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