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Aus: Ausgabe vom 20.02.2024, Seite 5 / Inland
Rentenreform

Kriegstüchtige Rentenräuber

Kampagne gegen abschlagsfreie Altersgeldansprüche für langjährig Versicherte. Immer mehr Menschen arbeiten jenseits der 65
Von Ralf Wurzbacher
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»Rente mit 63 ohne Abschläge und 35-Stunden-Woche jetzt!«: Gewerkschaftsdemonstration in Berlin (25.3.2023)

Wer kriegstüchtig sein will, muss tüchtig arbeiten – am besten bis zum Ableben. Im Debattenumfeld von noch mehr Waffen für Kiew und noch mehr Geld für die Bundeswehr ist die sogenannte Rente mit 63 heftig unter Beschuss geraten. Kurzen Prozess empfahl am vergangenen Freitag der »Wirtschaftsweise« Martin Werding im Gespräch mit der Verlagsgruppe Ippen Media: »Schafft die Rente mit 63 ab!« Für Wohlwollen sorgt das bei Deutschlands »Arbeitgebern« sowie in Reihen von Union, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, womit die Tage des sozialdemokratischen Widerstands gezählt sein dürften. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bereitet gerade eine große Rentenreform vor, und noch behauptet er, die abschlagsfreie »Frührente« nach 45 Beitragsjahren bewahren zu wollen. Aber seine Verteidigung bröckelt. Der Berliner Morgenpost vom Sonntag sagte er: »Die Rente mit 63 gibt es schon heute nicht mehr.«

Womit er recht hat. Eingeführt hatte die Regelung vor zehn Jahren die große Koalition, wobei zunächst vor 1953 Geborene davon profitierten. Inzwischen liegt die Altersgrenze bei 64 Jahren und vier Monaten für Menschen, die vor 1960 zur Welt kamen. Jüngere Jahrgänge müssen noch länger warten, für sie erhöht sich das Eintrittsalter bis 2029 auf 65 Jahre. Wer künftig früher aus dem Berufsleben ausscheiden will, muss sich also immer länger gedulden. Die Neoliberalen streben dagegen einen generellen Renteneintritt mit 70 Jahren an, und wer eher schlapp macht, soll dafür mit Abstrichen bei den Altersbezügen bluten. Ein vorzeitiger Ruhestand ohne Abschläge sei eine »eklatante Ungerechtigkeit«, zitierte am Montag die in Niedersachsen erscheinende Kreiszeitung den Generationenforscher Bernd Raffelhüschen. Der Ökonom ist Botschafter in Diensten der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM) und lobbyiert für die private Versicherungswirtschaft. Sein Mantra: »Wer früher geht, muss eben mehr zahlen.«

Reiner Heyse von der Initiative »Rentenzukunft« einem Koordinierungskreis gewerkschaftlicher Seniorenpolitiker, bringt das in Rage. »Es ist empörend, wie sich porschefahrende oder privatjetfliegende Politiker und höchstbezahlte Professoren anmaßen, die Sozialpolitik zu entern«, sagte er am Montag gegenüber junge Welt. »Die harte Lebensrealität von vielen Millionen geht sie nichts an – sie sind allerbestens versorgt.« Mehrere Umfragen haben gezeigt, dass bis zu zwei Drittel aller Beschäftigten mit 63 bis 65 Jahren in Rente gehen wollen. Offenbar geht der Erfolg der »Rente mit 63« inzwischen zu weit. Laut Deutscher Rentenversicherung (DRV) haben 2023 etwa 300.000 Menschen davon Gebrauch gemacht, mehr als jemals zuvor. Was offensichtlich Ausdruck einer Fluchtbewegung aus physisch und mental überfordernden Jobs ist, wird nun in der Diskussion als Drückebergerei gegeißelt und als Ungeheuerlichkeit in Zeiten des verbreiteten Fachkräftemangels.

An Widersprüchen stören sich Demagogen nicht. Berechnungen des Statistischen Bundesamtes auf Anfrage von Die Linke im Bundestag hatten Anfang des Jahres ergeben, dass über 42 Prozent der Rentnerinnen und Rentner mit einem Nettoeinkommen von 1.250 Euro und weniger auskommen müssen, darunter 5,2 Millionen Frauen. Außerdem gehen immer mehr Personen im Alter zwischen 63 und 67 Jahren einer Beschäftigung nach. 2020 waren es knapp über 1,3 Millionen, 2023 schon 1,67 Millionen, wie Matthias Birkwald, der Rentenexperte der Linken, bei der Regierung in Erfahrung brachte. Sogar unter den 65- bis 69jährigen gingen vor zwei Jahren 19 Prozent einer Erwerbsarbeit nach, 2012 waren es nur elf Prozent.

Ältere Menschen dürften nicht gezwungen sein, aufgrund einer niedrigen Rente weiter arbeiten zu müssen, bekräftige Birkwald in einer Stellungnahme vom Wochenende. Heyse von »Rentenzukunft« wird es angst und bange angesichts von Vorschlägen, eine Frühverrentung bei guter Gesundheit zu versagen. Früher habe man auf Pferdemärkten den Zustand der Tiere durch Gebissinspektionen taxiert, bemerkte er. »Wird es vielleicht bald eine ähnliche Fleischbeschau für abhängig Beschäftigte oder bestimmte Berufsgruppen geben?«

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