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Aus: Ausgabe vom 20.02.2024, Seite 12 / Thema
Geschichte der Arbeiterbewegung

Großer Streik

Zu Jahresbeginn 1924 traten im Wuppertal und in Rheinland-Westfalen Zehntausende Arbeiter für den Erhalt des Achtstundentags in den Ausstand
Von Reiner Rhefus
Bandfabrik Schüller & Sohn Barmen Schererei(3)_online.jpg
Acht Stunden sind genug. Arbeiter in der Bandfabrik Schüller & Sohn in Barmen in den 1920er Jahren

»Seit etwa zwei Wochen ist in unserer Stadt ein Wirtschaftskampf entbrannt, wie er in dieser Ausdehnung und Länge noch nicht vorgekommen ist.« So ließ sich der Barmer Oberbürgermeister Paul Hartmann Ende Januar 1924 in der Barmer Zeitung vernehmen. Zwei Wochen nach dem Streik war in der kommunistischen Zeitung Rote Tribüne zu lesen: »Das ganze Wuppertal war ein gewaltiges Kampflager der Arbeiterschaft. (…) Das Elend schaut den Kämpfenden aus den Backenknochen heraus. Der Haushalt wanderte zum Trödler.«

Es war ein erbitterter Wirtschaftskampf, der sich vor 100 Jahren, im Januar und Februar 1924, im Wuppertal¹ und im Bergischen Land abspielte. Seit Mitte Januar standen die drei größten Berufsgruppen, die Textilarbeiter, die Metallarbeiter und die Bauarbeiter im Streik. Ende Januar schlossen sich weitere Berufsgruppen an: Die Gemeinde- und Staatsarbeiter, die Transportarbeiter, das Personal der Straßenbahnen und der Schwebebahn, die Bergleute in der Kalkindustrie etc. Die etwa 200 Beschäftigten der Elektrizitätswerke wurden ausgesperrt. Weil auch der Schlachthof bestreikt wurde, drohte der Zusammenbruch der Fleischversorgung.

Genaue Angaben über die Anzahl der Streikenden gibt es nicht. Die Zahl der zum Ausstand aufgerufenen Textilarbeiter im rechtsrheinischen Tarifbezirk betrug etwa 60.000. Allein in Barmen und Elberfeld waren es 25.000. Die Zahl der zum Streik aufgerufenen Metallarbeiter im Tarifbezirk Barmen, Elberfeld, Vohwinkel belief sich auf rund 15.000, die der Bauarbeiter auf rund 8.700. Werden die streikenden Metallarbeiter von Cronenberg und die Textilarbeiter von Ronsdorf hinzugerechnet, umfasste der Streik im heutigen Stadtgebiet von Wuppertal mindestens 50.000 Personen, die über einen Zeitraum von zumindest fünf Wochen streikten. Doch wegen der – weitaus kürzeren – Arbeitsniederlegungen in den vielen anderen Branchen waren es deutlich mehr. Dabei lag die Zahl der Beschäftigten in Industrie und Handwerk in Barmen und Elberfeld bei etwas über 100.000, von denen im Januar 1924 ein erheblicher Teil erwerbslos war, also nach der schweren Krise des Jahres 1923 noch keine Beschäftigung gefunden hatte. Es ist kein Arbeitskampf in der Geschichte des an Arbeitskämpfen reichen Tals bekannt, der ein größeres Ausmaß erreicht hätte.

Alle Kräfte anspannen

Was war der Grund für eine solch heftige Streikbewegung? Die Hyperinflation hatte den Staat an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Mit dem Erlass eines Ermächtigungsgesetzes, der Verhängung des Ausnahmezustandes und der gewaltsamen Absetzung der »Arbeiterregierungen« in Sachsen und Thüringen im Oktober 1923 war, wie der aus Elberfeld stammende Zeitzeuge, der Politologe und Jurist Wolfgang Abendroth schrieb, die »letzte der Entscheidungsschlachten über den Charakter der Weimarer Republik (…) geschlagen. Der Staatsstreich des Reichspräsidenten und der Reichsregierung gegen die Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen im Oktober 1923 hatte die Restauration des Staatsapparates jenes monarchistischen Obrigkeitsstaates, der durch die Novemberrevolution zunächst geschlagen zu sein schien, des Amalgams aus Monopolkapital, Großgrundbesitz und Militär, (…) für die Zukunft abgesichert.«

Unter dem Ausnahmezustand, dem auch die SPD-Fraktion im Reich zugestimmt hatte, wurden zahlreiche Notverordnungen erlassen und die Umstellung auf die neue wertbeständige Währung, die »Renten-« bzw. »Goldmark«, eingeleitet. Der bisher schuldenfinanzierte Haushalt wurde saniert, bis zu einem Viertel der Staatsbediensteten entlassen, die Gehälter wurden stark gekürzt, die Arbeitszeiten auf bis zu zehn Stunden ausgeweitet. Um die Stellung der deutschen Wirtschaft auf dem Weltmarkt wieder zu stabilisieren und höhere Steuereinnahmen zu generieren, sollte auch die Privatwirtschaft nach diesem staatlichen Vorbild umgebaut werden. Das Bürgertum atmete durch und konnte wieder verhalten zuversichtlich in die Zukunft blicken. Doch diese Zuversicht hatten nicht alle Volksschichten. Wie bei einer solch harten Sanierung nicht anders zu erwarten, ließ sie Verlierer zurück. Für diese gewaltsam durchgesetzte Sanierung verwenden manche Historiker deshalb auch den in sich widersprüchlich anmutenden Begriff »Stabilisierungskrise«.

Die Unternehmer – nicht nur im Bergischen – forderten bei ohnehin schon sehr niedrigen Reallöhnen weiteren Lohnabbau, der zwischen zehn und 20 Prozent liegen sollte. Gleichzeitig wurde das Abkommen über den Achtstundentag – in der Revolution von 1918 erst errungen – von der Regierung »liberalisiert«, das heißt für »Ausnahmen« geöffnet. Das nutzten nun die Fabrikanten im Rheinland und im Bergischen Industriebezirk zu einem Vorstoß: Der Arbeitstag sollte in der Praxis auf bis zu zehn Stunden verlängert werden. Die Wuppertaler Arbeiterzeitungen brachten das Verlangen nach Lohnabbau und Arbeitszeitverlängerung auf die griffige Formel »Mehr hungern – mehr arbeiten«. Die Regierungsmaßnahmen und die diktatorische Haltung der Unternehmer wurden als »Generalangriff« auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse und auf die über einen langen Zeitraum erstrittenen Errungenschaften der Arbeiterbewegung verstanden.

Ein solcher Angriff war allerdings erwartet worden. Schon im Oktober 1923, als Hunger und Staatskrise ihren Höhepunkt in Deutschland erreicht hatten, hatte Robert Daum, Sozialdemokrat und Vorsitzender des Ortsausschusses des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB) von Elberfeld, Barmen und Vohwinkel, vorhergesagt: »Der Abbau des Achtstundentages ist noch nicht abgewehrt. (…) Es wird darauf spekuliert, dass eine hungernde Arbeiterschaft alle Diktate der Industrie (…) hinnehmen wird. (…) Eine gewaltige, alle Kräfte der Arbeiter anspannende Auseinandersetzung (…) wird kommen. Da muss nun heute schon darauf hingearbeitet werden!«

Die Bewegung zum Erhalt des Achtstundentages hatte ihren Anfang in Berlin genommen. Hier wurden gleich in den ersten Januartagen 150.000 Metallarbeiter ausgesperrt, als sie sich weigerten, mehr als acht Stunden zu arbeiten. Nur wenige Tage später griff die Bewegung auf das Rheinland über und eskalierte mit der Aussperrung von 30.000 Metallarbeiten in Düsseldorf. Am 12. Januar wurde daraufhin in Düsseldorf das Zentralstreikkomitee für Rheinland-Westfalen gegründet.

Doch die Streikkassen der Gewerkschaften waren durch die Inflation leer. Daher reagierten die Gewerkschaftsführungen eher zögerlich auf den Ruf der empörten Arbeiterschaft nach Gegenwehr und Streik. Zudem herrschte Ausnahmezustand. In den Straßen insbesondere der Arbeiterviertel patrouillierte seit Oktober 1923 berittene Schutzpolizei. Es war wohl der Mut der Verzweiflung, der die Wuppertaler Arbeiterschaft – wie die in Remscheid, in Velbert, in Hagen und anderswo – nach dem ungeheuer entbehrungsreichen Jahr 1923 in den Streik trieb.

Die Frage nach der Ausweitung des Streiks stellte sich überall. Auch im Ortsausschuss Barmen-Elberfeld-Vohwinkel wurde die Forderung des Textilarbeiterverbandes nach einem »Gesamtstreik«, also einem örtlichen Generalstreik beraten. Doch zu diesem Beschluss kam es im Wuppertal nicht.

Elberfeld-Barmen im Zentrum

Der Textilstreik betraf das Bergische Land zwischen Ruhr und Dhünn. Der Streikaufruf in der Metallindustrie umfasste das ganze Rheinisch-Westfälische Industriegebiet, die Arbeitskämpfe wurden aber lokal unterschiedlich geführt. Neben den Wupperstädten waren insbesondere Düsseldorf, Remscheid, Solingen, Velbert, Essen und Hagen Zentren dieser Auseinandersetzung. In Remscheid wurde der Metallarbeiterstreik zu einem lokalen Generalstreik ausgeweitet. In anderen Städten wurde der Konflikt mit den Metallunternehmern in Form eines »Generalstreiks« in der Metallindustrie geführt, so in Gelsenkirchen und Velbert. In einigen Regionen traten einzelne Berufsgruppen und Branchen in den Ausstand. So die Textilarbeiter in Krefeld und die Bergleute im Rheinischen Braunkohlerevier. In einigen Städten und Großbetrieben, wo sich die Arbeiter weigerten, länger als acht Stunden zu arbeiten, gingen die Unternehmer mit Aussperrungen gegen ihre Belegschaften vor, so in Düsseldorf (30.000), Schwelm (16.000), bei Klöckner in Bochum (3.000). Im Hüttenbetrieb Henschel & Co. in Hattingen wurden alle Arbeiter fristlos entlassen. Es gibt Schätzungen, nach denen in Rheinland-Westfalen und im Bergischen rund 500.000 Menschen an diesen Wirtschaftskämpfen beteiligt waren.

Doch Elberfeld-Barmen war das Zentrum dieses Arbeitskampfes für das Bergische Land und den Bezirk Niederrhein. In Barmen saßen die Bezirksleitungen der beiden Textilarbeiterverbände. Im Barmer Rathaus hatten die staatliche Schlichtungsstelle für das Bergische Land und der Regierungspräsident Düsseldorf, der zugleich als Schlichter tätig war, ihren Sitz. In Elberfeld saß die Bezirksleitung Niederrhein der SPD und der Verband der Arbeitgeber im bergischen Industriebezirk e. V. Aus Barmen-Elberfeld stammten auch zwei der einflussreichsten Führer der Kapitalseite: Carl Duisberg und Abraham Frowein, damals zweiter Vorsitzender des Reichsverbandes der Deutschen Industrie.

Die KPD gehörte zu den treibenden Kräften des Streiks. Sie hatte eine enorm starke Position an der Gewerkschaftsbasis, weniger jedoch bei den hauptamtlichen Funktionären. Die Erfahrungen der Hyperinflation im Jahr 1923 und die damit verbundenen Reallohnverluste hatten ihren Einfluss stark wachsen lassen. In Elberfeld-Barmen hatten die Kommunisten sowohl in der Textilarbeitergewerkschaft als auch bei den Bauarbeitern die Majorität in den Ortsverwaltungen – zum Teil mit Dreiviertelmehrheit. Die KPD war bemüht, aus den Streiks einzelner Branchen einen Gesamtstreik zu formen, was auch an einzelnen Orten gelang, so etwa zwei Monate lang in der Nachbarstadt Remscheid, letztendlich aber nicht zum Erfolg führte.

Im unbesetzten Teil des Deutschen Reichs waren die Kommunistische Partei und ihre Zeitungen verboten, aber im französisch besetzten Remscheid² konnte ihre Zeitung, die Bergische Arbeiterstimme, erscheinen. In Remscheid wurde auch die illegale Rote Fahne des Westens gedruckt, die für das unbesetzte Rheinland gedacht war. Die Zeitung wurde über die von französischen Soldaten bewachte Grenze geschmuggelt und konnte wohl auch in den Wupperstädten während des Streiks ihre Rolle entfalten. Redakteur dieser Zeitung war Albert Norden (1904–1982), Sohn des Elberfelder Rabbiners und angesehenen Bürgers Josef Norden. Norden wurde kurz nach dem Streik bei einer Zugfahrt von Remscheid nach Elberfeld entdeckt und verhaftet. Er verbüßte dann im Gefängnis Elberfeld seine erste politische Haftstrafe. Die Verbreitung kommunistischer Zeitungen war mit Gefahren verbunden: Die beiden Jungkommunisten Willy Kirschey und Max Dahlhaus wurden von der Polizei erwischt und kamen in »Schutzhaft« ins »Sennelager«. In kommunistischen Kreisen sprach man vom »sibirischen Konzentrationslager«, denn die Senne, ein karger, entlegener Landstrich in Ostwestfalen, mit Kaserne der Schutzpolizei und Truppenübungsplatz, bot im Winter 1924 vielen Kommunisten eine »Hunger- und Kältekur«, wie es ironisch in der Roten Tribüne hieß.

Not und Ausnahmezustand

Anfang Februar 1924 unternahm der Barmer Oberbürgermeister als Leiter einer Delegation von Arbeitervertretern eine Reise nach Berlin, um den Arbeitsminister um Vermittlung zu bitten. Das Ministerium entsandte dann auch einen Vertreter ins Wuppertal. Aber keiner der Schiedssprüche enthielt Zugeständnisse an die Arbeiter in der zentralen Frage des Achtstundentages. Nach der zweiten Streikwoche kam es zur Urabstimmung über die Annahme der neuerlichen Schiedssprüche in der Textil- und der Metallbranche. An der Abstimmung beteiligten sich etwa 42.000 Streikende. Die Ablehnung war einhellig: In Barmen und Elberfeld lag sie bei 99 Prozent, im gesamten Streikgebiet bei 94 Prozent. Dieses Resultat, ein Signal der Entschlossenheit, sei zustande gekommen, wie es in der sozialdemokratischen Freien Presse vom 5. Februar hieß, »trotz des zermürbenden Hungers, der in den ausgemergelten Körpern der meisten Arbeiter und Arbeiterinnen wühlt«.

Die materielle Not der Streikenden muss gravierend gewesen sein. Die verheerende Hyperinflation hatte schon im Herbst und Winter 1923 Reallohnverlust und Verelendung mit sich gebracht. Im Januar berichtete der Stadtarzt von Barmen über die Lage der Kinder und Kranken: Vor dem Krieg seien täglich 60.000 Liter Milch in Barmen verbraucht worden, jetzt stünden täglich nur noch 7.000–8.000 Liter zur Verfügung, so dass kaum die Kranken und die jüngsten Kinder versorgt werden könnten. »Die wichtigste Ursache für die Unterernährung dürfte in dem immer schlimmer werdenden Milchmangel und der Verteuerung der Milch liegen.« Die materielle Not betraf vor allem die Rentner, die Kinder, die Erwerbslosen und Kurzarbeiter, die, obwohl ihre Zahl seit Dezember rapide gesunken war, immer noch etwa ein Viertel der Arbeiterschaft darstellten. Diese ohnehin schon prekäre Situation verschlimmerte sich infolge des streikbedingten vollständigen Lohnverlusts. Einen Ausgleich durch Streikunterstützung gab es nicht. Aus der Not in den Arbeiterfamilien wurde Hunger.

In der zweiten Streikwoche stellten die Fraktionen von Zentrum und SPD in Barmen den Antrag »im Rahmen der städtischen Wohlfahrtspflege alles zu tun, um die bitterste Not zu heben, insbesondere durch vermehrte Ausgaben von Essen in den Volksküchen, von Brot-, Milch und Lebensmittelscheinen«. Im Antrag der Zentrumsfraktion in Elberfeld hieß es sogar, dass »viele Familien in so großes Elend geraten« seien, dass dies die Gefahr der Unruhe heraufbeschwören würde. Die Stadt müsse vermitteln und Beihilfe geben.

Die öffentliche Hilfe für die Streikenden wurde vom »Verband von Arbeitgebern im Bergischen Industriebezirk« scharf bekämpft. Er entsandte sogar eine diesbezügliche Beschwerde an das Arbeitsministerium. Doch Regierungspräsident Grützner, ein Sozialdemokrat, hatte verfügt, dass an die Angehörigen der Streikenden, also nur an die Frauen und Kinder, auf Antrag die Wohlfahrtssätze vorschussweise zu zahlen seien, »sobald Not vorliege«. Viele Städte zogen auf Antrag der Arbeiter- und Volksparteien, also auch der katholischen Zentrums­partei, diese Möglichkeit in Betracht, doch die Finanzierung solcher Maßnahmen war schwierig. Oftmals mussten die Städte eigens dazu einen Kredit aufnehmen. In Elberfeld und Barmen wurden in Schulen Speisehallen eingerichtet.

Die beiden Konsumgenossenschaften, »Vorwärts« in Barmen und »Befreiung« in Elberfeld, vergaben Lebensmittelgutscheine und Kredite an ihre Mitglieder. Der ADGB-Ortsausschuss sammelte Lebensmittel und machte es den Gewerkschaftsmitgliedern, die nicht unmittelbar vom Streik betroffen waren, zur Pflicht, für die Dauer des Streiks ein Drittel ihres Wochenlohns zu spenden. Die zunächst vielfältigen Sammellisten wurden vereinheitlicht und zentralisiert. Auch einige private Einzelhändler unterstützten die Arbeiter und verhandelten in Einzelfällen auch mit Betriebsräten über Kredite. Doch es kam auch vermehrt zu Diebstahl und Raub. Die Bauernschaft im Umland von Velbert, nur wenige Kilometer von Elberfeld entfernt, beantragte in einem Schreiben an den Bürgermeister von Velbert Waffenscheine für die Inhaber von einsam gelegenen Höfen, damit sie sich besser gegen Diebe schützen könnten.

All das geschah vor dem Hintergrund eines seit Mitte Oktober herrschenden Ausnahmezustands. Für das Rheinland lag die oberste Gewalt bei General Fritz von Loßberg in Münster, der auch über die Einheiten der kasernierten Schutzpolizei verfügte. Auf der südlichen Anhöhe oberhalb von Barmen lag eine solche Polizeikaserne mit schwerbewaffneten und berittenen Polizeieinheiten. Seit Beginn des Belagerungszustandes, vor allem in den Monaten Oktober und November, waren allein in Elberfeld und Barmen neun Zivilisten, sämtlich Arbeiter, durch Schusswaffen der Polizei zu Tode gekommen. Nun, während des Streiks, mussten wie zuvor alle Versammlungen fünf Tage vorher beantragt und von den Militärbehörden genehmigt werden. Demonstrationen und andere Menschenansammlungen auf den Straßen waren verboten. Mit Plakaten und Zeitungsnotizen wies die Polizeibehörde darauf hin.

Die örtliche Zeitung der Sozialdemokratie forderte von der mitverantwortlichen Parteiführung, auf die Aufhebung des Ausnahmezustandes zu drängen. Im wesentlichen richtete sich der Ausnahmezustand aber gegen die Kommunisten und deren Aktivitäten. Als die illegale KPD am 13. Februar zu Straßendemonstrationen für den Achtstundentag aufrief, eskalierte die Situation im Wuppertal. Mittags hingen Plakate an den Litfaßsäulen und Häuserecken in Elberfeld und Barmen und kündeten die Demonstration schon für den Nachmittag an. Wenige Stunden später versammelten sich Tausende auf dem Alten Markt und in den umliegenden Straßen. Die Polizei löste die Ansammlungen auf, dabei wurde an der Gewerbeschulstraße der 23jährige Arbeiter Erich Steimel erschossen. Wegen der Demonstrationen ging die Schupo verschärft in den Arbeitervierteln vor, durchsuchte Häuser, verhaftete Arbeiter. Von der Tiergartenstraße, einer typischen Arbeiterstraße in Nähe der Friedrich-Bayer-Farbenfabriken, schossen Tage später zwei betrunkene berittene Polizisten wahllos mit ihrem Revolver um sich.

Streikende durch Zwangsschlichtung

Der Tod von Erich Steimel, eines Führers der kommunistischen Jugend, schüchterte ein, der Hunger setzten den Streikenden und ihren Familien zu. Zudem hatte der Arbeitgeberverband nach dem für sie sehr ungünstigen Ergebnis der Urabstimmung weitere Zugeständnisse kategorisch ausgeschlossen. Das Arbeitsministerium in Berlin kündigte an: Wenn nicht kurzfristig eine Einigung zustande komme, werde bald die staatliche Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruches erfolgen. Die Zweifel am Erfolg wuchsen, die Streikfront bröckelte. Der Christliche Textilarbeiterverband, der etwa 30 Prozent der Streikenden vertrat, beschloss in der fünften Wochen des Streiks die Wiederaufnahme der Arbeit, sofern es keine »Maßregelungen«, also Entlassungen der Streikführer geben würde.

Die SPD-nahen »freien Gewerkschaften« beschlossen dagegen auf einer Versammlung von 1.500 Betriebsräten mit übergroßer Mehrheit und gegen den Rat der Funktionäre, den Streik fortzusetzen. Ähnlich klar fiel auch das Votum bei den Metallarbeitern aus. Die Betriebsräte scheinen die Stimmung der Streikenden richtig eingeschätzt zu haben. Wie auch bürgerliche Zeitungen im Wuppertal feststellen mussten, wurde trotz des Streikabbruchs des Christlichen Verbandes nur in wenigen Betrieben gearbeitet. Die Mehrheit der dem christlichen Textilarbeiterverband angehörenden Mitglieder scheint der Parole ihrer Verbandsleitung nicht gefolgt zu sein. Die Textilarbeiter wollten ihren Kollegen von den freigewerkschaftlichen Verbänden offensichtlich nicht in den Rücken fallen.

Doch wenig später wurden vom Ministerium in Berlin die von den Arbeitern zuvor so einhellig abgelehnten Schlichtersprüche für verbindlich erklärt – die Unternehmer hatte sich mit Hilfe der Staatsbehörden durchgesetzt. Die Arbeiter und Arbeiterinnen in der Textilindustrie mussten nun wöchentlich 54 Stunden, also täglich eine Stunde mehr arbeiten. In der Metallindustrie waren es sogar 56 Stunden – statt wie bisher 48 Stunden. Die Stundenlöhne wurden um wenige Pfennige erhöht. Das Ende des Streiks musste Verbitterung erzeugen. Nach sechs Wochen Arbeitsniederlegung stimmte fast ein Viertel der Delegierten der streikenden Metallarbeiter, 118 der 392, trotz der Aussichtslosigkeit für die Fortsetzung des Streiks. Und auch im Christlichen Metallarbeiterverband war der Widerstandswille nicht gänzlich gebrochen. Doch am 26. Februar wurde die Arbeit wieder aufgenommen.

Die Löhne blieben niedrig. Mit dem Stundenlohn eines Facharbeiters ließ sich gerade einmal ein Laib Brot kaufen. In den folgenden Monaten flammten in vielen Wuppertaler Betrieben immer wieder wilde Streiks auf. Der Arbeitgeberverband erstellte »schwarze Listen« mit Namen der Beteiligten. Wie groß die materielle Not, aber auch die Wut in der Arbeiterschaft nach dieser Demütigung war, zeigt die Lohnforderung der Elberfelder Eisenbahngewerkschaft Ende März, fünf Wochen nach Ende des Streiks in der Metall- und Textilindustrie. Diesmal hatten wilde Streiks bei den Eisenbahnern in Württemberg begonnen, die schnell auf andere Bezirke übergriffen. Am 31. März forderte die Elberfelder Eisenbahnergewerkschaft eine Lohnerhöhung von 35 Prozent.

Streit in der SPD

Die Niederlage löste in der SPD heftige Auseinandersetzungen aus. Auf den Anfang März stattfindenden Vorbereitungskonferenzen zum anstehenden Reichsparteitag in den Bezirken Elberfeld, Remscheid, Hagen und Köln fanden die Anträge der Parteilinken, die sich frontal gegen die Parteispitze richteten, große Mehrheiten. Im Elberfelder Antrag hieß es, das Ermächtigungsgesetz habe »sich fast restlos gegen die Arbeiterklasse ausgewirkt zum Schaden des Ansehens der Partei. (…) Der Unterbezirksparteitag in Elberfeld fordert von dem Parteitag ein klares und eindeutiges Bekenntnis zum proletarischen Klassenkampf und eine ebenso klare Absage der Politik der Mehrheit der Reichstagsfraktion.« In anderen Anträgen wurde der Parteiausschluss der staatlichen Schlichter gefordert, die der SPD angehörten, und die mit ihren Schiedssprüchen den Achtstundentag zu Fall gebracht hatten. Im Barmen fand sogar der Antrag auf Parteiausschluss von Friedrich Ebert, dem sozialdemokratischen Reichspräsidenten, eine, wenn auch knappe, Mehrheit (57 zu 56 Stimmen). Ähnliche Auseinandersetzungen gab es in allen Teilen des Reiches, insbesondere aber in Thüringen und Sachsen, Länder, in denen der linke Flügel der SPD besonders stark war.

Wie recht die SPD-Linke im Bergischen mit ihren Befürchtungen hatte, zeigte sich Anfang Mai 1924 bei den Kommunal- und Reichstagswahlen. Bei den Kommunalwahlen verblieben den Barmer Sozialdemokarten von ihren bisher 34 Stadtverordneten nur noch acht. Im Reichstagswahlbezirk Düsseldorf-Ost, zu dem Elberfeld und Barmen gehörten und der im Zentrum des Streikgebiets lag, verblieben der SPD von zuvor 420.000 Stimmen noch 110.000, also ein Viertel. Die alte Arbeiterpartei fiel vom ersten auf den fünften Platz. Die KPD erhielt einen Großteil dieser Arbeiterstimmen – 240.000 – und wurde stärkste Partei in diesem Wahlkreis. Doch insgesamt hatte das linke Lager erheblich verloren. Die Möglichkeit der Kooperation war kaum mehr vorhanden. Dies ausblendend titelte die kommunistische Rote Tribüne am 5. Mai triumphierend: »Das Proletariat wählt die Revolution!«

Anmerkungen

1 Die Stadt Wuppertal entstand 1929 durch den Zusammenschluss von Elberfeld, Barmen, und drei weiteren Städten (Vohwinkel, Cronenberg, Ronsdorf). Der Begriff Wuppertal für die beiden Städte war jedoch schon vor 1929 gebräuchlich.

2 Die Städte Elberfeld und Barmen lagen wie ein Keil im französisch besetzten Gebiet. Sowohl auf den nördlichen wie den südlichen Anhöhen verlief die Grenze.

Reiner Rhefus bereitet eine Ausstellung zu dieser großen Streikbewegung von 1924 vor. Sie stellt die Ereignisse im Wuppertal exemplarisch in den Mittelpunkt, thematisiert die Umstände, die Vielfalt der Berufsgruppen, die Entbehrungen der Streikenden und die vielfältigen Folgen.

Die Ausstellung wird an fünf Wochenenden, vom 14. April bis 12. Mai 2024 in der Verteilungsstelle Kunst und Geschichte, Sedanstr. 86/88, 42281 Wuppertal, zu sehen sein. Sonntags 15 Uhr Führung. Gruppenführungen nach Absprache. (neuhausrhefus@aol.com)

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