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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Bevor der Abend ins Tal rauscht

Rock’n’Roll-Momente und unerfüllte Wünsche beim Depeche-Mode-Konzert in Berlin
Von Michael Sommer
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Bewegend bleibt es trotzdem: Depeche Mode in der Mercedes-Benz-Arena (13.2.2024)

Donnerstag abend im kältesten Viertel Berlins. Zweiter von drei Berlin-Terminen der Depeche-Mode-Hallentournee 2024. Der »Black Swarm« flutet den Mercedes-Platz in Friedrichshain. Links die Mildred-Harnack-, vor der East-Side-Mall die Tamara-Danz-Straße. Architektonisch ist der Ort die Hölle. Man sieht, was Geld anrichten kann. Der Burger bei »Hans im Glück« kostet um die 13 Euro. Depeche-T-Shirts verschiedener Jahrgänge spannen über Wohlstandsbäuchen. Einige Verzweifelte halten auch in Zeiten von E-Tickets »Suche Karte«-Schilder in die Höhe. Ein einsamer Straßenmusiker spielt DM-Songs zur Gitarre.

Die Arena ist eine Mehrzweckhalle mit flexibel auf- und abbaubaren Sitzreihen. Zwischen den Depeche-Mode-Konzerten muss die Bühne runter – es spielen die Eisbären, Martin Rütter und Luciano. Zur Garderobe geht es in einen umlaufenden Gang, es wirkt wie im Kolosseum in Rom, nur unendlich viel trostloser. Unter der Decke prangt ein riesiger Mercedes-Stern – was wird da hängen, wenn Fahrdienstleister Uber die Halle als Namensgeber übernommen hat?

Humanist (UK) bestreiten das Vorprogramm mit postpunkigem Lärm. Sie leisten sich zwei Leadsänger, von denen folgerichtig einer abwechselnd rumsteht wie ein Lehrling auf Probezeit. Der Applaus ist nach Ende des Sets am lautesten. Danach läuft Techno vom Band, die Temperatur in der Halle steigt. Crescendo. Dann endlich fällt der Vorhang.

Depeche Mode eröffnen das Set auf ihrer aktuellen Tour mit »My Cosmos Is Mine« – und wieder mal ist die Aufführung dieses sperrigen Stücks vom aktuellen Album »Memento Mori« ein Wagnis, das gelingt. Aber was soll schon passieren, die Leute fressen der Band und besonders Frontmann Dave Gahan vom ersten Ton an aus der Hand. Überhaupt dieser Sänger: Wenn es seit Freddie Mercury selig einen Showman gegeben hat, der die Menge dirigieren kann, wie es ihm gefällt, dann ist es Gahan.

Was auffällt: Depeche Mode sind mit Drummer Christian Eigner und Keyboarder Peter Gordeno mittlerweile zu einer veritablen Liveband geworden. Schien in alten Zeiten jeder Ton bei den Konzerten festgelegt (so sehr, dass Verspieler schmerzhaft auffielen), leisten sich vor allem Martin Gore an der Gitarre und Gordeno Rock’n’Roll-Momente – inklusive eines Drumsolos von Christian Eigner, zu dem sich die Band ums Schlagzeug versammelt. Und sie haben sichtlich Spaß: Gore spielt Blue Notes zu »In Your Room« und überrascht mit Moves like Keith.

Depeche Mode sind mittlerweile viel zu groß dafür, um nur für die Perlentaucher unter ihren Fans spielen zu können. Wer Stadien ausverkauft und Hallentourneen absolviert, für die wiederholt Zusatztermine gebucht werden müssen, hat es auf eine Weise geschafft, die einen ganz speziellen Imperativ beinhaltet. Songs wie »I Feel You« sind gesetzt. Aber das seltener gespielte »Black Celebration« und »Stripped« sowie eine von Gore solo zum Piano gesungene Version der in der Albumfassung überzuckerten Ballade »Heaven« versöhnen.

Man muss der Band ja auch zugutehalten, dass sie sich nicht gänzlich auf ihren Lorbeeren ausruht: Von »Memento Mori« tauchen mehrere Titel im Set auf. Und DM halten den Beat hoch: »It’s No Good«, »A Pain That I’m Used To« und »John the Revelator« sind verlässliche Stampfer. Das Set vom Donnerstag weicht in einigen Teilen von dem am vergangenen Dienstag ab, DM wechseln das superbe »My Favourite Stranger« gegen die Ballade »Before We Drown« ein – zu beiden Songs gibt es übrigens fantastische Videos im Bühnenhintergrund.

»World In My Eyes« ist die allfällige Hommage an das verstorbene Bandmitglied Andrew Fletcher – es soll sein Lieblingssong gewesen sein. Zur Performance gehört das Zeigen der Finger-formen-Augen-Geste, brav machen die Fans mit. Bewegend bleibt es trotzdem.

Mit »Just Can’t Get Enough«, »Never Let Me Down Again« und »Personal Jesus« rauscht der Abend ins Tal. Manches davon hätte es nicht mehr gebraucht. Mag sein, es sind die Lieder, die Depeche Mode an diesem Abend nicht spielen – als würden die Helden deiner Jugend dein Herz erobern und dann brechen. Immer wieder.

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