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Aus: Ausgabe vom 17.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Klinik der Geschichte

Berlinale. Nicolas Philiberts Psychiatriedoku »Averroès & Rosa Parks«
Von Manfred Hermes
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Ein Wandelgang mit dorischen Säulen deutet an, dass sich im Gebäude der Klinik eine Menge Geschichte angesammelt hat

Nicolas Philiberts »Averroès & Rosa Parks« ist der zweite Teil einer Dokutrilogie, die sich mit der psychiatrischen Praxis in einer Pariser Klinik befasst. Der erste, »Auf der Adamant«erhielt im letzten Jahr den Goldenen Bären. Da die Teilnehmer beider Filme im Hôpital Esquirol leben, kommt es zu personellen Überschneidungen. Durch den Wechsel von der schwimmenden Tagesstätte ins Klinikgebäude verändert sich aber der Fokus. Philibert dokumentiert vor allem Einzel- und Gruppengespräche der Patienten mit den Psychiatern. In diesen Redekuren zeigt sich eine Konzeption von psychiatrischer Arbeit, deren Formen von Zugewandtheit und Miteinander die tiefschwarzen Phasen weit hinter sich gelassen haben.

Die Patienten zeigen sehr diverse Verhalten, Altersverteilungen, Krankheitsbilder. Viele Gesichter sind von der Krankheit oder vom Alter zerschunden. Bei einem Kulturarbeiter und »jüdischen Buddhisten« bilden nur kaum merkliche Verhaltensdrehungen den Unterschied zu jener Großmäuligkeit und Megalomanie, die man nur allzu gut aus dem Alltag kennt. In einer sehr alten Frau mit krächzender Stimme bricht immer wieder Paranoides durch, das auch große Wut und gepresstes Leid verrät.

Viele Patienten bewegen sich schon so lange im System, dass es fast zum einzigen Raum ihrer Erfahrung geworden ist. Ein junger Mann wird einmal nach der Vorstellung über seine Zukunft befragt. »Sehen sie Fortschritte?« »Das nun eigentlich auch wieder nicht«. Immer wieder zeigt sich, wie klar die Einsicht in die eigene und die institutionelle Situation sein kann: »Ich weiß, es ist schwierig für alle, die Stationen sind ja auch unterbesetzt«. »Danke, dass Sie sich um mich kümmern«. Manche vermissen körperliche Nähe oder fordern sie sogar ein, dann gibt es eine Umarmung. Aber alles hat seine Grenzen, zumal selbst die erfreulichste Sitzung spätestens nach 50 Minuten endet.

Philiberts Zugang ist menschenfreundlich und vielleicht von einer etwas allzu harmlosen Aufgeschlossenheit. Die Präsenz von Kamera oder Filmcrew wird ebenso wenig Gegenstand des Films wie ein Tatbestand, der aber doch sehr auffällt: Die Klasse der Facharbeiter am Geist und an der Seele ist erheblich homogener zusammengesetzt als die der Patienten. Alle diese Ärzte und Ärztinnen zeigen die Glätte selbstbewusster und sozial abgesicherter Mittelstandsmenschen, die sich nach der Arbeit in der Weinbar entspannen.

Ab und zu steigt »Averroès & Rosa Parks« aus den Gesprächssituationen aus und dann sieht man Details vom Ort und von den Räumlichkeiten. Ein Wandelgang mit dorischen Säulen deutet an, dass sich in diesem Gebäude eine Menge Geschichte angesammelt hat.

Tatsächlich geht das Hôpital Esquirol auf eine Einrichtung zurück, die Ordensleute im 17. Jahrhundert vor der östlichen Pariser Stadtmauer und in der Nähe der Seine angelegt haben. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Gelände so ausladend und palastartig erweitert, dass eine architektonische Sehenswürdigkeit entstand, die kürzlich teilweise in Eigentumswohnungen umgewandelt werden konnte. Von ebenso anekdotischem Interesse dürfte auch sein, dass an diesem Ort, damals wurde er königliches Hospiz zu Charenton genannt, Donatien Alphonse François de Sade bis zu seinem Tod weggeschlossen wurde. In dieser Zeit verfasste er die »120 Tage von Sodom«.

»Averroès & Rosa Parks«, Regie: Nicolas Philiberts, Frankreich 2024, 143 Min., »Berlinale Special«, 17., 18. und 24. Februar

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