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Aus: Ausgabe vom 15.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Rock

Die Welt stürzt ein

Alkaline Trios neues Album »Blood, Hair, and Eyeballs«
Von Ken Merten
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Kiss me, kiss me: Alkaline Trio

Fallhöhe oder Verfallhöhe? Mit »Blood, Hair, and Eyeballs« hat die Chicagoer Poppunkband Alkaline Trio das Dutzend vollgemacht. Das zwölfte Studioalbum ist das erste seit sechs Jahren und eine Art Heimkehr: Für Sänger und Gitarrist Matt Skiba endete seine mehrjährige Leiharbeit bei Blink-182, als Gründungsmitglied Tom DeLonge 2022 seinen Platz an Mikro und Fußpedal wieder einnahm und man auf Skiba fortan wieder verzichtete.

Dazu, dass sich Skiba wieder voll auf das Trio (sein »musikalisches Zuhause«, wie er es gegenüber dem Magazin Kerrang! im großen Albuminterview nannte) konzentrieren kann, kam eine Scheidung: Nach 20 Jahren verließ Drummer Derek Grant die Band, im Anschluss an die Studioarbeit zu »Blood, Hair, and Eyeballs«. Adam »Atom« Willard (u. a. Gründungsmitglied von Angels & Airwaves, zeitweilig bei Against Me!, sein Lebenslauf ist lang) trommelt seitdem für die Band.

Auch wenn Skiba die Meinung vertritt, zwischen Alkaline Trio und Blink-182 befänden sich keine Welten, vielleicht eine in Sachen Prominenz – denn nur letztere reisen im Privatjet und bekommen auf Welttouren Polizeieskorte –, dann ist es wohl genau die Trennlinie von Auf- und Abstieg, die zwischen dem zu ziehen ist, was beide Bands jeweils vermitteln: Bei Blink-182 scheint auch noch der größte Trennungsschmerz zu verkraften – die nächste Party, das nächste Glück warten bereits. Die San Diegoer sagen vor allem: Niemand muss Emo sein. Dagegen ist die Welt von Alkaline Trio eine stets einstürzende: »Es ist nicht nur hier in den Staaten so, es scheint überall zu sein. Es sieht sehr danach aus, als lebten wir in der Apokalypse«, sagte Bassist und Sänger Daniel Andriano gegenüber Kerrang!; der Weltuntergang, er ist und er bietet den Stoff fürs Songwriting. Andriano sagt beides in einem knappen Hauptsatz zusammengeschnurrt und nur scheinbar flapsig: »It’s end-of-days stuff out there.«

Tiefe Verzweiflung macht sich breit im Herzen. In »Teenage Heart« heißt es im Kehrreim zu makaberem Ska: »All I want for Christmas is an AR-15 / My stocking stuffed with fentanyl / Drop like a fly at the ripe age of sixteen / ­Wishing I had a friend to call.« Skiba soll 2016 auf einem Balkon an der Grenze zwischen Texas und Mexiko gestanden und mit einer Freundin telefoniert haben, als er hörte, wie ein halbautomatisches Gewehr abgefeuert wurde und der Drogenkrieg tobte. Nichts Schönes, nichts Neues: Die Band kannte das Austragen von Bandenkonflikten mit Drive-by-Shootings von den Straßen Chicagos und spielte in Proberäumen gegenüber von Crackhöhlen, bei deren Dealer sie weichere Rauschmittel erwarben und nachbarschaftlich versprachen, nach neun Uhr abends keinen Krach mehr zu veranstalten, um den Süchtigen ihre Ruhe zu gönnen.

Die betäubenden Partynächte samt anschließendem Umherwandeln als Depressionszombie, während man von den Drogen schmerzhaft runterfährt, haben Skiba und Andriano als Kernduo des Trios hinter sich gelassen. Was nicht heißt, dass die Zustände dadurch sauberer geworden sind.

Van Halens Kink für den Lehrkörper (»Hot for Teacher«, 1984) hat man gegen den noch schwierigeren Fimmel für Talarträger ausgetauscht. Eigentlich aber wird im ersten Track von »Blood, Hair, and Eyeballs« namens »Hot for Preacher« schon der Anfang vom Ende aller Liebesmüh’ verkündet: »We are so far, so lost, it’s true / We can’t attempt to start anew / We lost our way so long ago / Chopping things down before they grow.« Der sich mit seiner so selbstverständlich locker vorgetragenen Düsternis in der Hirnrinde absetzende Song »Meet Me« schließt an diese Tristesse direkt an: Andriano snappt seine dicken Saiten untergangsromantisch, und eine weibliche, sediert wirkende Stimme hilft fern im Hintergrund aus. Aber das wirklich Erschütternde ist Skiba, der da skurril seinen Halleffekt selbst herstellt: »Meet me (meet me), meet me (meet me) / Kiss me (kiss me), kiss me (kiss me)« – ein einsamer Akt, der wirkt, als spreche da der letzte Mensch mit dem einzigen seiner Spezies, sich selbst. »And as the sky is falling / I’ll fall into your arms« – ja, ist da noch wer? Sind da noch haltende Arme? Oder gab es die nur mal, und haben damals die schützenden Hände nicht gleichsam unerfüllbare Erwartungen vermittelt (»Tell me a story, sing me a song / Somebody save us, we don’t have long / Mommy, I’m scared / Daddy, I’m brave / Tell me I’m done for / But still getting paid«)? Das SOS verhallt in einem Raum, indem auch eine zu »All the Small Things« abgehende Meute feiern könnte, er bliebe menschenleer.

»Blood, Hair, and Eyeballs« von Alkaline Trio ist ganz düsterer Shit, eine Bittersüßigkeit, die man nicht alleine zu sich nehmen sollte. Aber man sollte.

Alkaline Trio: »Blood, Hair, and ­Eyeballs« (Rise Records)

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