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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 2 / Inland
Kritik an Thyssen-Krupp

»Refats Tod gilt nicht einmal als Arbeitsunfall«

NRW: Angehörige von Thyssen-Steel-Arbeiter warten nach über einem Jahr noch immer auf Aufklärung und Entschädigung. Ein Gespräch mit Philipp Lottholz
Interview: Henning von Stoltzenberg
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Protestaktion in Duisburg (26.3.2023)

Seit der bulgarische Arbeiter Refat Süleyman in einem Werk von Thyssen-Krupp-Steel (TKS) in Duisburg starb, ist bereits mehr als ein Jahr vergangen. Was müssen die Angehörigen aktuell juristisch noch durchmachen?

Derzeit warten wir auf den endgültigen Abschluss der Untersuchung. Interne Quellen bestätigten, dass diese sich ihrem Ende nähert und keine Anklage gegen TKS erhoben wird. Bis heute wird der Tod von Refat nicht als Arbeitsunfall eingestuft. Die Unfallversicherung weigert sich, die Witwe zu entschädigen.

Süleymann war am 17. Oktober 2022 auf dem Werksgelände tot aufgefunden worden, seit dem 14. galt er als verschwunden. Wie sind die Ermittlungen verlaufen?

Die erste Phase der polizeilichen Ermittlungen wurde am 19. Mai 2023 abgeschlossen. In der vorläufigen Schlussfolgerung heißt es: »Die Entfernung der Schutzbrüstung und die fehlende Möglichkeit, diese überhaupt gesichert am Beckenrand zu fixieren, dürften eklatante Verletzungen gegen Arbeitssicherheitsvorschriften sein und den Tod von Refat Süleyman begünstigt haben.« Ein Arbeiter, der anonym bleiben möchte, hatte sich vor der Veröffentlichung des Polizeiberichts mit der Familie von Refat in Verbindung gesetzt und erklärt, dass ein entferntes Geländer der Grund für seinen Sturz gewesen sei. Als er den Vorgesetzten vor Ort darauf hinwies, sei dem Arbeiter gesagt worden, er solle den Mund halten. Kurz darauf sei er nach mehr als zehn Jahren Arbeit in der Fabrik entlassen worden.

Sie hatten anlässlich der Hauptversammlung am 2. Februar für Aufklärung demonstriert.

Der Protest war ein Aufruf im Namen der Familien von Arbeitern, die in der Fabrik ihr Leben verloren oder schwere Arbeitsunfälle erlitten haben. Die Familien Dalip, Naydenov und Özcan sowie Aktivisten von »Stolipinovo in Europa« versammelten sich, um eine Klärung des Todes von Refat Süleyman und eine angemessene Entschädigung zu fordern. Außerdem forderten sie, dass TKS die Verantwortung für die Nichteinhaltung von Sicherheitsvorschriften übernimmt sowie die gefährlichen Arbeitsbedingungen und die unfaire Behandlung der Arbeiter beendet.

Wie reagierte Thyssen-Krupp-Steel?

Die Antwort von TKS war, dass sie der Familie von Refat über die Leihfirma Eleman, die ihn eingestellt hatte, und bei dem Treffen mit dem bulgarischen Botschafter im November 2023 Unterstützung angeboten haben. Diese Information wurde von der Botschaft als »absurde Behauptung« zurückgewiesen. Ein Vertreter erklärte, dass es bei dem Treffen im November kein solches Angebot gab und dass der Botschafter nicht einmal an dem Treffen teilgenommen hat, sondern die Sozialattachée.

Verunglücken Mitglieder bestimmter Gruppen im Betrieb häufiger?

Leihfirmen müssen solche Unfälle nicht an TKS melden. Der Tod von Refat ist nicht einmal als Arbeitsunfall einzustufen. Laut Kollegen und Betriebsräten sind solche Unfälle an der Tagesordnung. Sie sagen, dass sich jährlich zwischen zehn und 15 schwere Arbeitsunfälle ereignen, unter Direktbeschäftigten und Zeitarbeitern, wobei letztere eine höhere Zahl von Arbeitsunfällen aufweisen.

Wurde mittlerweile der Arbeitsschutz verbessert?

Gegenüber der bulgarischen Botschaft behaupteten TKS-Mitarbeiter, dass seit dem Tod von Refat rigorose Verbesserungen umgesetzt wurden. Beweise lieferten sie nicht. Aus internen Quellen wissen wir, dass TKS ein »ausgeklügeltes Kontrollverfahren für das Lieferantenmanagement« einführte: strenge Kontrollen in der ersten Reihe der Auftragnehmer und »völlige Nichtkonformität in der zweiten und dritten Reihe«. Unternehmen wie Eleman sind damit aus dem Schneider.

Und wer steht der Familie bei?

Seit dem Tod von Refat hat seine Familie weder von TKS noch von den deutschen Behörden Unterstützung erhalten. Mit Hilfe von »Stolipinovo in Europa« und einigen Sozialarbeitern aus Marxloh hat Refats sechsjähriger Sohn endlich einen Kindergartenplatz bekommen, leider nicht in einer spezialisierten Einrichtung für Kinder mit schweren Formen des Autismus. Das Jobcenter Duisburg hatte Maria Naydenova nach dem Tod ihres Mannes sofort die Unterstützung gestrichen. Vor zwei Monaten erklärten sie, dass sie eine Teilzeitbeschäftigung aufnehmen müsse. Das Arbeitsamt besteht darauf, dass sie mehr Stunden arbeitet, um Anspruch auf Unterstützung zu haben.

Philipp Lottholz ist Sprecher des migrantischen Interessenverbands »Stolipinovo in Europa«

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