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Aus: Ausgabe vom 17.02.2024, Seite 6 (Beilage) / Wochenendbeilage
Zeitgeschichte

Wege durch den Februar

Auf dem Gleis der Geschichte unterwegs im Roten Wien der Zwischenkriegszeit. Anmerkungen zu zwei Jahrestagen
Von Gerd Schumann
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Straßenszene in Wien im Januar 1934

Begonnen hatte meine Reise im Kopf. Die Erinnerung kam, als ich im Januar die XXIX. Rosa-Luxemburg-Konferenz besuchte und mir natürlich zwangsläufig Pirker einfiel. Werner Pirker, der ewige Grantler, mein österreichischer Kollege und Freund. Vor zehn Jahren, am 13. Januar 2014, war er verstorben, wenige Tage nach der Konferenz, und jetzt sah ich ihn wieder oben am Aufgang zum Saal im Tempodrom – wie damals in der Urania –, lässig angelehnt an eine Balustrade, vor sich eine Tasse Kaffee, mich mit der Frage empfangend: »Na, Genosse, wie steht es?«

Um ihn stand es damals, 2014, wahrscheinlich – ich kann es nur vermuten – nicht gut. Nachdem wir uns dann am Sonntag noch kurz an der Gedenkstätte der Sozialisten in Friedrichsfelde begegnet waren, fiel tags darauf unser schon fast zeremoniell gepflegter Gedankenaustausch aus, eine Quatscherei mit Tiefgang, während der wir bei Bier und Wein und einer Kleinigkeit zu essen in der Babylon-Bar oder der Volksbühnen-Kantine die Weltlage analysierten. Er kam nicht, er kam nie wieder, er blieb nur im Gedächtnis, tauchte des öfteren darin auf und – bei mir zumindest – mit ihm auch Wien, seine Stadt, ein magischer Bezugspunkt meiner Imagination. Dort wollte ich hin.

Dass ich dann allerdings nicht nur im zeitlichen Umfeld von Pirkers Todestag, sondern zudem des 90. Jahrestags eines für Europa und die Welt historischen Datums auf dem Wiener Flughafen landen würde, war mir nicht bewusst gewesen. Mag allerdings sein, dass es irgendwo im Unterbewusstsein eine Rolle spielte, jedenfalls packte ich Anna Seghers Roman »Der Weg durch den Februar« ins Handgepäck. In der Vergangenheit hatte ich mir schon häufiger vorgenommen, ihn als ein Stück wichtiger Exilliteratur noch einmal zu lesen, war aber nicht dazu gekommen – und welche Stadt sollte besser dazu geeignet sein, als der Ort, an dem die Handlung spielt? So zumindest meine Überlegung.

Kommt man dann vom Wiener Zentrum aus mit der U4 zur Endstation Heiligenstadt, fällt zuallererst der opulente, modern wirkende Bahnhof auf. Das denkmalgeschützte Bauwerk verband zur 19ten Jahrhundertwende Prag über Gmünd (heute: České Velenice) und die Vororte im Norden der k.-und-k.-Metropole mit der geschäftigen, prunkvollen Innenstadt. Die »Kaiser-Franz-Joseph-Bahn« transportierte Steinkohle aus dem Pilsener Becken in die Fabriken und Wohlbetuchte von der Donau in die böhmischen Kurstädte – eine Art Ost-West-Eisenbahnknoten mit Verteilungsfunktion für Menschen und Waren. Und sicherlich könnte der Bahnhof viel von Aufstieg und Fall der Monarchie erzählen wie auch von Blüte und Zerschlagung der Wiener Arbeiter­bewegung.

Rolltreppe runter, dann im gekachelten Gang nach links dem sprichwörtlichen Licht am Ende des Tunnels entgegen, über einem mehrere Bahnstränge und Gleisanlagen, das erste Schild zum »12.-Februar-Platz«, dann noch eines, wohl damit niemand verpasst, dass er sich tatsächlich auf dem Gleis der Geschichte befindet: Am 12. Februar 1934 begann der bewaffnete Aufstand des österreichischen Antifaschismus und erfasste in kürzester Zeit das ganze Land.

In Linz war mit dem »Hotel Schiff« die Zentrale der dortigen Sozialdemokratie von der Polizei des Regimes angegriffen worden. Genutzt als Kino, Arbeiterheim, Bibliothek, Lesesaal, zudem als wichtiger Rückzugsort des paramilitärischen Arms der Partei, des Republikanischen Schutzbundes, sollte es unter der Ägide der Engelbert-Dollfuß-Diktatur nach Waffen durchsucht werden. Der Widerstand dagegen machte Furore in vielen, ebenfalls vom Faschismus bedrängten Ländern Europas und weckte Hoffnungen, die man auch heute, angesichts durchaus vorhandener Parallelen, wieder gut gebrauchen könnte.

Natürlich wusste Pirker um die Bedeutung des 12. Februar, und es mag durchaus sein, dass er hier, auf dem gleichnamigen Platz, manches Mal gestanden hatte. Wenn er in die Gegend fuhr, aus der er stammte, und das machte er häufiger, wird er am Bahnhof Heiligenstadt ausgestiegen sein. Wie einst Anna Seghers im Frühsommer 1934.

Ihr erster Blick fiel auf den zusammenhängenden Gebäuderiegel gegenüber dem Bahnhof, den Karl-Marx-Hof. Er streckte sich vor ihr aus, legendäres Produkt des Roten Wiens der Zwischenkriegszeit. 1930 eingeweiht, wurde er zu einem jener vielgerühmten Gemeindebauten, von denen so manche unter der sozialdemokratischen Stadtregierung der Ersten Republik zwischen 1919 und 1934 errichtet wurden: Der Rabenhof im dritten Bezirk, der Victor-Adler-Hof im zehnten, der Sandleitenhof und eben – Glanzstück – der nach dem deutschen Revolutionär, Politiker, Philosophen und Mitverfasser des »Kommunistischen Manifests« benannte Komplex im 19. Gemeindebezirk Döbling.

Karl-Marx-Hof – der wirkt immer noch wie eine gewaltige Burg, mit aufgemauerten, breiten Fahnentürmen und etlichen Torbögen, über 1.300 moderne Sozialwohnungen drinnen, zum Teil mit Balkonen, alle mit fließend Wasser, die Mieten nicht höher als zwischen fünf und acht Prozent der Einkommen seiner Bewohner, soziale Gemeinschaftseinrichtungen, Zahn­klinik, Kindergärten, Waschsalon, Bücherei, Restauration, Kaffeehaus, ein Konsum-Supermarkt sowie eine Menge Grün in den beiden ausladenden Höfen. Lediglich ein knappes Viertel des günstig erstandenen Bodens wurde bebaut, der Rest lud Kinder zum Spielen und Erwachsene zum Verweilen ein – ein offener Freizeitpark von hohem Kommunikationswert.

Der Waschsalon beherbergt heute die Dauerausstellung »Das Rote Wien«. Lilli Bauer, eine der Kuratorinnen, erläutert: »Man hat versucht, mit diesem Konzept des Austromarxismus eine neue Gesellschaft zu errichten: emanzipierte, politisch gebildete, selbstbewusste Arbeiterinnen und Arbeiter. Das war auch für den Gemeindebau zentral. Der Gemeindebau sollte wie ›eine Stadt in der Stadt‹ funktionieren.« Im Vergleich zu der erbärmlichen und teuren Wohnsituation zuvor seien die Höfe geradezu ein »Geniestreich« gewesen, maßgeblich im übrigen für Wahlerfolge der Sozialdemokraten.

Wer den Karl-Marx-Hof besucht, assoziiert, wenn er die DDR kannte: Kulturhaus, Jugendklub, Poliklinik, Stalinallee, Marzahn, Plattenbau, Freiflächen, Anschluss an Bus, Tram oder Bahn – all das sicher nicht unbedingt direkt vergleichbar mit den Bauten der österreichischen Arbeiterbewegung, vor allem, weil in einer anderen Zeit entstanden, architektonisch anders, zwei, drei Jahrzehnte eher, aber doch.

Die Überlegung angesichts anhaltender Wohnungsnot heutzutage, dass selbst im Kapitalismus nicht immer alles schlecht, sondern sogar einiges möglich war, drängt sich in Wien auf und wirkt irgendwie erfrischend. Auf die Idee, Reichensteuern auf diverse Luxusgüter, Champagner, auf die Stellen von Hausbediensteten, Kraftwagen, Fremdenzimmer, Abgaben für Wertzuwachs und Hauspersonal zu erheben, muss man schließlich nicht nur kommen, sondern sie auch umsetzen.

Als die Vermögenden und deren Lobbyisten in Staat und Justiz dann um 1930 mit ihrer Gegenwehr in Gestalt von Propagandaoffensiven und Gesetzen erfolgreich waren, ging es auch mit dem Wohnungsbau und dem Einfluss der Sozialdemokratie bergab. Die Ständestaatler mit ihrem austrofaschistischen Kurs übernahmen 1933 das Sagen, regierten diktatorisch, mit Sondergesetzen – und die sozialdemokratische Parteiführung hoffte darauf, der Spuk werde schon irgendwann vorbeigehen: in Deutschland wie in Österreich eine fromme Vorstellung, der die Katastrophe folgte, die also irgendwie mit vorbereitete.

Wohl auch deswegen durchzieht Anna Seghers’ Roman der nach 1933 schnell reifende Gedanke an eine umfassende Einheitsfront aller Antifaschisten und dass die Arbeiterbewegung immer wachsam bleiben sollte, auch gegenüber ihren eigenen Führungen. Und die Autorin lässt einen jungen Aufständischen sagen, dass so manches, anders als in der Partei behauptet, hart und schwer werden könnte: »(…) ihr hättet uns sagen sollen: Es kann auch schlecht ausgehen auf eine gewisse Zeit, es kann auch auf eine gewisse Zeit mit Kerker enden. Es kann auch für einzelne mit dem Tod enden. Und wir wären davon nicht schwächer geworden (…).«

Werner Pirker stammte aus einer kommunistischen Familie. Sein Vater war vom ersten bis zum letzten Tag der Naziherrschaft in einem österreichischen KZ, befreit erst mit der Befreiung Wiens durch die Rote Armee. Sein Sohn, geboren 1947, studierte in Frankfurt am Main Politikwissenschaft und Soziologie, heuerte 1975, wieder zurück in Wien, bei der KP-Tageszeitung Volksstimme an, für die er ab Oktober 1986 als Moskau-Korrespondent tätig wurde. Da waren »Perestroika« und »Glasnost« gerade »zur weltweiten Offensive auf die ideologischen Apparate«, wie er meinte, angetreten, und wähnte sich folglich optimistisch in einer reformerischen und zugleich umstürzlerischen Etappe auch des Journalismus. »Damit schien die kommunistische Publizistik alle Voraussetzungen auf ihrer Seite zu haben, der bürgerlichen Konkurrenz die Vorherrschaft über die Begriffe abzunehmen.«

Der Schein trog. Jedoch war zu Beginn seiner Moskauer Zeit nicht absehbar, dass das Vorhaben, in der Sowjetunion eine höhere Stufe des Sozialismus zu erreichen, nicht gelingen würde. Das Erwachen aus dem Traum, in dem ein neuer, besserer Sozialismus die Oberhand gewann, war um so schmerzhafter. Pirker: »In der Konkurrenz der Systeme siegte die Konkurrenzgesellschaft.« Zentraler Punkt des Scheiterns sei gewesen, dass es der Gesellschaft nicht gelang, »sich einen neuen Inhalt zu erobern, sie wurde auf die primitivsten Formen ihres Seins zurückgeworfen«.

Ein falscher Spieler habe mit Tricks die Inhalte umgedeutet, zitiert er Marx, die sozialistische Erneuerungsbewegung als vorgeblicher Versuch Michail Gorbatschows »einer demokratischen Refundierung der Sowjetmacht« sei in eine »liberale Konterrevolution« umgeschlagen, der »bürokratische Markt siegte über die gesellschaftlichen Grundbedürfnisse« – so Pirkers bittere Bilanz am Ende seiner Moskauer Erlebnisse. Zurück in der BRD machte er sich schnell einen Namen in der linken Publizistik, wurde schließlich stellvertretender Chefredakteur der jungen Welt und einer der landesweit wichtigsten Kommentatoren – wenn auch in seiner Ausstrahlung leider begrenzt auf die stark eingeschränkte Wirkmächtigkeit der linken Bewegungen, meist ausgeschlossen von den Mainstreammedien. Aber eben doch, wenn auch nicht direkt messbar, immer präsent.

Natürlich waren nicht alle Ideologen jener bewegten Tage des gesellschaftspolitischen Niedergangs der neuen BRD ihm und seinen immer präzise auf den Punkt gebrachten Ansichten gegenüber aufgeschlossen ‒ im Gegenteil ‒, manche der mittlerweile meist abgesprungenen Karrierelinken reagierten schon mal gehässig. Das Wort »Shitstorm« war zwar noch nicht im deutschen Sprachgebrauch aufgetaucht, doch dessen Bedeutung hätte gepasst, sobald es um Pirker ging. Heute würde man sagen: Dieser Autor polarisierte. Oder besser: Er forderte heraus. Ein brillanter Analytiker und Stilist, jedes Wort und Komma, jeder Punkt und Strich durchdacht.

Die jüdische Kommunistin Seghers (1900–1983), schon in der Weimarer Republik eine Schriftstellerin von Format, musste nach der Machtübertragung an Hitler mit ihrem Mann Radványi László über die Schweiz nach Frankreich fliehen. Die beiden Kinder blieben zunächst bei den Großeltern und folgten später. Aus ihrem Pariser Exil begab sich die Autorin und antifaschistische Aktivistin dann im Frühsommer 1934 nach Österreich, um dort zu den bewegenden Ereignissen des Februars zu recherchieren.

Wahrscheinlich geschah das in Absprache mit Willi Münzenberg, verantwortlich bei der Komintern für Publizistik und Leiter des Exilverlages Éditions du Carrefour. In diesem erschien dann auch der Roman 1935 erstmals. Entstanden unmittelbar vor dem »Siebten Kreuz« hatte Seghers im Juli 1934 auf Grundlage ihrer Wien-Erkundungen bereits die reportagenhafte Novelle »Der letzte Weg des Koloman Wallisch« in der von Grete Weiskopf verantworteten Exilzeitschrift Neue deutsche Blätter veröffentlicht und eine erste, eher reportagenhafte Auswertung vorgelegt.

Darin schildert sie die letzten Stationen des Antifaschisten Wallisch auf der Flucht vor den Gendarmen der Diktatur. Am 19. Februar 1934 wurde er als einer von neun Aufständischen hingerichtet, über hundert seiner Genossen waren in den Kämpfen gefallen, die Sozialdemokratie verboten, der Karl-Marx-Hof umbenannt in Biedermannhof – nach dem Kommandeur der Kompanie, die das von Arbeitern gehaltene Quartier gestürmt hatte.

Seitdem waren gerade knappe drei Monate vergangen, da stand Anna Seghers also vor dem Karl-Marx-Hof und stellte sich vor, wie ihre österreichischen Genossen auf dem Bahnhofsvorplatz trotz aller Widrigkeiten die Stellung gehalten hatten an jenem 12. Februar, als der bewaffnete Kampf endlich begonnen hatte – wenn auch nur halbherzig, was die Haltung der Zentrale der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei betraf. Von wegen, der Aufstand würde »überall« geführt. Zögern und Zaudern hatten Handeln, schnelleres Handeln verhindert, bis die Arbeiter selbst das Heft in die Hand nahmen, wie sie durchgängig erzählt, über Parteien hinweg, anders als in Deutschland 1933.

»Nichts war zu hören als die näherkommende, gegen ihre Stirnen anrollende Eisenbahn, drüben auf dem Bahndamm. Jemand sagte leise: ›Rudolf‹. Rudolf sagte nichts. Der andere sagte: ›Ist das überall?‹ Jemand sagte: ›Saupack.‹ Alle würgten. Rudolfs Stimme wurde im Dunkeln gierig aufgesaugt. ›Die Schienen sind eben nicht aufgerissen; die Überführung ist nicht gesprengt worden.‹« Eine Vorhut war ebensowenig vorhanden wie die zugesagte Unterstützung von außen. Die Zufahrt für den Nachschub der hochorganisierten staatlichen Truppen war offen geblieben, der bewaffnete Widerstand isoliert, »ein Staat war gegen sie, ein regelrechtes Heer mit Tanks und Flugzeugen, im Rücken Armeen mächtiger Staaten«, und doch, so Seghers, war man gezwungen, »etwas auszutragen, dessen Ausgang von vornherein gewiss ist«.

Hinter Barrikaden in den Torbögen des Hofes verschanzt lagen die Arbeiter vom Schutzbund, Gewerkschafter, Mitglieder der verbotenen Kommunistischen Partei, als die – an sich nach dem Ersten Weltkrieg geächteten – Panzer des Regimes angriffen. Ein Schutzbündler sagt: »Deshalb, meine Genossen, lasst euch durch nichts irremachen. Denkt immer bei jeder Maschine, es sitzt ein Mensch darin, dem aber zielt auf den Kopf. Wenn ihr ihm nicht auf den Kopf zielt, wird er euch später auf den Kopf treten. Der Mann muss das Gefühl haben, dass es sein sicherer Tod ist, die Maschine zu bedienen – den sicheren Tod für Dollfuß, das ist doch eine andere Sache als der Tod für die Arbeiterklasse, versteht ihr mich? (…).« Sie verstanden, doch das half ihnen nicht.

Die Niederlage wirft in Österreich noch heute hier und da die Frage auf, was gewesen wäre, hätte die Arbeiterbewegung in jenen Tagen des Jahres 34 nicht verloren. Die zu stellen, ist allerdings so vergeblich und entmutigend wie die Verzweiflung darüber, einen scheinbar vermeidbaren, tragischen Verlauf der Geschichte nicht gestoppt zu haben – vergleichbar vielleicht mit der in Deutschland leider wenig präsenten Vorstellung, was gewesen wäre, wären im Januar 1919 Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht erschlagen worden.

Sie konnten sich nicht mehr wehren, die Revolution war gescheitert, ihre Ermordung markierte den Anfang vom Ende, das sich seinerzeit trotz des elenden Ersten Weltkriegs niemand vorzustellen vermochte. Wie in Wien offensichtlich nicht jene 200.000 Kriegstoten und 40.000 in den Vernichtungslagern der Nazis ermordeten Juden. Die jüdische Bevölkerung musste 1938 unter dem Gejohle eines fanatisierten Pöbels das Pflaster öffentlicher Gehsteige schrubben – ein Trauma, das wie die Reichspogromnacht im selben Jahr die Gewissen der Nachfahren bis heute beschäftigen müsste – und beunruhigen.

Werner Pirker war mir vor meiner Zeit bei der jungen Welt als Autor bekannt. Seine Beiträge vor allem in der Zeitschrift Konkret, wo er dann irgendwann geschasst worden war, hatte ich zwar seit langem verfolgt, doch begegnete er mir erstmals persönlich unterwegs – irgendwo während einer Pause auf der Fahrt mit dem Bus von Berlin ins kriegsgeschundene Belgrad war das, Sommer 1999. Die NATO-Bomber hatten in einem Angriffskrieg auf Jugoslawien die einstige Vorhut der weltweiten Drittweltbewegung als Vielvölkerstaat zerschlagen und in kapitalistische Einzelstaaten mit NATO-Perspektive zerlegt. Wir reisten mit einer Gruppe von Kriegsgegnern aus Ost und West eben dorthin, wo Deutsche wieder mal dabeigewesen waren. Zwischen 1941 und 1944 hatten Hitler-Truppen Serbien und Bosnien besetzt, Radio Belgrad spielte um Mitternacht »Lili Marleen«, und im KZ Jasenovac wurden 500.000 Serben, Juden und Roma vernichtet.

Als ich dann 2014 in einem Bistro nahe dem Karl-Liebknecht-Haus in Berlin-Mitte auf Pirker wartete, saßen einige der Leute dort, die die Linkspartei öffnen wollten für Kriegseinsätze, um Regierungsfähigkeit zu erlangen. »Nachwuchskarrieristen aus der Linkspartei« nannte sie »der Pirker« mal, und ich überlegte leicht besorgt, wie er wohl reagieren würde, wenn er die Gäste am Nachbartisch bemerkte. Ich konnte mir ein Szenario gut vorstellen, in dem der leidenschaftliche Streiter die Hauptrolle spielen würde. Jede Form von Opportunismus konnte ihn sekundenschnell – oder schneller – auf 180 bringen. Und dann würde es echt kontrovers zugehen. Er hätte gestritten, lautstark, aber auch mit fein geführter Klinge, ironisch wie immer, seinen eigenen Erfahrungen verpflichtet, die besagten: Nicht den Mund halten.

Das bleibt. Im Februar 2014 fuhr ich nach unserem geplatzten Treffen mit einigen Kollegen zur Trauerfeier in die österreichische Hauptstadt. Es wurde ein würdiger Abschied mit vielen wahren Worten und slawischer Küche, die er so geschätzt hatte. Der Selbstgebrannte aus Pflaumen durfte nicht fehlen, versteht sich. Dschiwili, Genosse, Prost und: »Alle Macht den Räten!« Den Spruch hatte er mir einst als Widmung in sein bei Promedia verlegtes Buch »Die Rache der Sowjets« geschrieben, und er klingt heute, inmitten der so oft beschworenen »Demokratie« parlamentarischer Prägung, seltsam aktuell, versinnbildlicht er doch so etwas wie Hoffnung auf bessere Zeiten.

Was ist falsch daran, außer, dass die Erfüllung bisher ausblieb? So dachte ich, als ich am nasskalten Abend des 13. Januar 2024 das Tempodrom verließ. Pirker hatte sich aus der Vergangenheit gemeldet. Die Reise ins Rote Wien nahm Kontur an.

Gerd Schumann lebt und arbeitet als Autor in Berlin und Mecklenburg. Er war langjähriger Leiter des Auslandsressorts der jungen Welt. Jüngste Buchveröffentlichungen: »Kaiserstraße. Der deutsche Kolonialismus und seine Geschichte«, »Joschka Fischer. Wollt ihr mich oder eure Träume?« (beide 2021). Zuletzt an dieser Stelle schrieb Schumann am 23. Dezember 2023 über Floh de Colognes Oratorium »Mumien – Kantate für Rockband«

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