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Aus: Ausgabe vom 17.02.2024, Seite 4 (Beilage) / Wochenendbeilage
Russisches Haus

Sieben Stockwerke Kultur

40 Jahre Russisches Haus in Berlin: Sprache, Literatur, Wissenschaft und Musik
Von Gisela Sonnenburg
Zentral gelegen: Das Russische Haus in der Friedrichstraße
Ob Konzerte, Sprachkurse oder Ausstellung: Die Vielfalt russischer Kultur unter einem Dach
Gleich nebenan: Der größte russische Buchladen Deutschlands

Lieben Sie Russisch? Aber bitte! Mittwoch abends, stets um 19 Uhr, trifft sich im Russischen Haus in Berlin mit seinem Kandinsky-Look und den kantigen Bauhaus-Linien eine internationale Gemeinschaft von Freiwilligen: Sie bessern spielerisch ihre Sprachkenntnisse auf. Deutsche, Russischstämmige und Ukrainer, aber auch ein Syrer, ein Ägypter, eine Kanadierin, ein Türke, ein Israeli, zwei Belarussinnen, ein Moldawier, ein Peruaner, ein US-Amerikaner und eine Kubanerin sind dabei. Die Atmosphäre ist freundschaftlich, man duzt sich. Es gibt Tee aus einem echt russischen Samowar, dazu was Süßes. An den Wänden hängen großformatige Gemälde, die in modern-figurativem Stil russische Landschaften, die bäuerliche Welt und auch die der Technik zeigen. Nichts erinnert mehr daran, dass das Haus 2022 für einige Monate geschlossen war.

Mehr als 30 Lernwillige kommen in diesen kostenfreien Sprachklub namens »Russisch an der Spree«. Manche Teilnehmer sind Anfänger, andere Muttersprachler. Unter der fachkundigen Leitung der jungen, dynamischen Anastasia Galkina, die seit April 2023 Leiterin des Bildungszentrums im Russischen Haus ist, gibt es pro Sitzung ein Thema: »Russische Städte«, »Russische Malerei«, »Russische Weihnachten«, »Russische Wissenschaftler«, »Valentinstag«. Mit mündlichen und schriftlichen Aufgaben, die durch originelle Spiele gelöst werden, motiviert Anastasia ihre Schützlinge. Immerhin sind die grammatischen Zeiten ja leicht im Russischen: Es gibt Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Sonst nichts. Altersmäßig sind hier viele Generationen vertreten: vom Mädchen Sascha bis zu Olga, die schon Enkel hat.

Jan, 34 und Ingenieur, kommt, weil er »an der russischen Kultur und den Menschen interessiert« ist. Dreimal war er schon in Russland und hofft auf eine weitere Reise: an den Baikalsee oder nach Kasan, auch wenn das zur Zeit nicht eben einfach ist. Seine gute Erfahrung mit den Russen: »Meine eigene Offenheit und Unvoreingenommenheit wurden ebenso erwidert.«

Auch Lisa, 21 und Studentin, möchte nach Russland: für ein Auslandssemester. Sie studiert Ökologie und Umweltplanung. Ihr Hobby aber sind Sprachen: Außer Russisch lernt sie auch Latein und Italienisch. Ihre Wunschuni befindet sich in Kaliningrad, wohin sie auch Kontakt zu einer befreundeten Familie unterhält. Weil das Russische Haus Menschen aus Deutschland Studienplätze in Russland vermittelt, ist Lisas Traum nicht unrealistisch.

Ihre Sitznachbarin Katja, 51, ist eine selbstbewusste Schönheit, die trotz guter Bildung als Küchenhilfe und Reinigungskraft arbeitet. Sie könnte sich sogar vorstellen, ganz zu übersiedeln: »Wenn ich keine Kinder hätte, wäre ich schon nach Russland ausgewandert.« Sie liebt die russische Kultur. Russisch ist für sie »die schönste aller Imperialsprachen«. Bis zum Ural würde Katja am liebsten reisen – aber konkrete Pläne hat sie noch nicht.

Bewusst aussortiert

Viele Sprachklubteilnehmer hatten, wie Jan und Katja, mal Russisch als Schulfach und frischen ihr Können jetzt auf. Andere haben ein russisches Elternteil und wollen sich ihre Multikulturalität bewahren. Noch andere machen einen Sprachkurs im Russischen Haus – besonders die zweiwöchigen Intensivkurse sind empfehlenswert – und brauchen Übung. Wieder andere kommen vor allem wegen der sozialen Kontakte: Russisch verbindet.

Die melodisch klingende, nicht unkomplizierte, aber in ihrer Logik dem Deutschen ähnelnde russische Sprache wird weltweit von rund 260 Millionen Menschen verstanden und gesprochen. Im Internet ist Russisch die am zweithäufigsten verwendete Sprache, kommt gleich nach dem Englischen. Trotzdem bemüht sich die deutsche Politik kaum noch um den russischsprachigen Nachwuchs.

Catrin Fuchs ist »Fachleiter Russisch« – ohne weibliche Endung – an der Salzmannschule Schnepfenthal. Das ist ein staatliches Spezialgymnasium für Sprachen im thüringischen Waltershausen. Fuchs lehrt seit 35 Jahren Russisch, lernte die Sprache schon als Kleinkind, weil ihre Mutter auch Russischlehrerin war. Die auch lokalpolitisch aktive Gelehrte Fuchs hat Zeiten erlebt, in denen kompetenter Russischunterricht hoch angesehen war auch nach 1990.

Seit 2022 aber, sagt Fuchs, wurde Russisch »an vielen Schulen ein Auslaufmodell«: Erstens, weil die Schüler politisch gegen Russland vereinnahmt werden, und zweitens, weil es nach der kommenden Pensionierungswelle kaum noch pädagogischen Nachwuchs in Deutschland geben wird. »Die Ausbildung zum Russischlehrer wird nicht mehr genügend gefördert«, sagt sie.

Manche Schulen, wie das Rosa-Luxemburg-Gymnasium in Berlin, stampften schon vor zwei Jahren ohne ministerielle Anweisung den Russischunterricht ein. Es gibt dort nur noch die auslaufenden Kurse. So verbleibt in der deutschen Hauptstadt, also in der ehemaligen Hauptstadt der DDR, die Rudolf-Virchow-Oberschule im Stadtteil Marzahn als einzige staatliche Schule, die Russisch bis zum Abitur anbietet. Fragt sich nur, wie lange noch.

Denn die Schulbuchverlage Klett und Cornelsen stellten die Aktualisierung der Lehrbücher für das Russische ein. Mit den vorhandenen digitalen Lehrmitteln kommt man laut Expertin Fuchs nur noch auf das Sprachniveau von B1. Auch die weiteren Bildungsmöglichkeiten in Deutschland sind von der antirussischen Propaganda beeinflusst. An den Universitäten sind die entsprechenden Studentenzahlen rückläufig. Der Friedrich-Verlag gab ein Fachblatt, eine russische Fremdsprachenzeitung, einfach auf. Fortbildungen für Russischlehrer werden in Deutschland faktisch eine Seltenheit.

Zwar bemüht sich das 1993 in Berlin gegründete Deutsch-Russische Forum e. V., durch seinen Wettbewerb »Bundescup: Spielend Russisch lernen« die jugendliche Sprachbegeisterung zu steigern. Aber oft wird Russisch heute diskriminiert. So wurde die international bekannte »Bundesolympiade der russischen Sprache, Literatur und Kultur« schon vergangenes Jahr abgeschafft, auf Druck der Bundesregierung.

Durch die einseitige, lückenhafte Berichterstattung der Mainstreammedien über die Ukraine und Russland werden junge Leute vom Russischen abgeschreckt. Wer will schon eine angebliche »Tätersprache« lernen? Kann man damit noch Karriere machen? Bleibt Russisch eine bedeutende Sprache? Wer im Russischen Haus in Berlin einen Sprachkurs besucht, hat diese Fragen für sich meistens beantwortet und hält sich an die Fakten: Russisch ist eine der wichtigsten Sprachen der Welt und als Kultursprache mit seiner reichhaltigen Literatur ohnehin eine der größten Hausnummern. Man denke an Puschkin und Turgenjew, an Tolstoi und Dostojewski. An Gorki und Tschechow, an Majakowski und Pasternak. An Zwetajewa, Achmatowa, Sorokin … Bis in die Gegenwart spielt die russische Dichtung eine führende Rolle. Und was nur wenige wissen: In der Menge der Publikationen wissenschaftlicher Literatur steht Russisch sowieso mit an der Spitze.

Will der Westen wirklich auf all das verzichten? Die historischen Leistungen von Russinnen und Russen auf vielen Gebieten der Zivilisation sind doch unumstritten. Der 2022 mancherorts in Westdeutschland begonnene Versuch, Konzert-, Opern- und Ballettspielpläne ohne russisches Kulturgut zu erhalten, ist rasch eingebrochen: Nur mit Bach und Mozart, mit Chopin und Debussy, mit Pop und elektronischer Musik kann man keine anspruchsvolle musikalische Bildung leisten. Tschaikowski, Schostakowitsch, Rachmaninow, Prokofjew …

Im Ballett weiß man es seit langem: Die Künste finden mit Russland zu ihren schönsten Blütezeiten. Obwohl oder gerade weil das Land die Kontinente Europa und Asien in sich vereint. Um sich nun dessen Kunst näher anzuschauen, geht man in Berlin ins Russische Haus. Seine zentrale Lage in Mitte – auf der Westseite der Friedrichstraße – macht die Anreise unkompliziert.

40 Jahre Kultur

»Stadtträume« heißt eine großangelegte aktuelle Schau, die Arbeiten von russischen und deutschen Künstlern der Gegenwart zum Thema »Stadt« zusammenfasst. Eine andere Ausstellung würdigt russische Komponisten; weitere befinden sich in Planung.

Im stylisch designten Kinosaal kann man dann abends russische oder auch sowjetische Filme sehen, die in Deutschland Mangelware sind. Derzeit sind sie mit englischen oder auch keinen Untertiteln versehen. Aber für die nahe Zukunft verspricht Pawel Iswolski, der Direktor vom Russischen Haus in Berlin, eine deutsche Untertitelung. Und zwar für aktuelle Kinofilme.

Dieses Projekt gehört zu den geplanten Veranstaltungen im Jubiläumsjahr. Weitere werden vor allem in der zweiten Jahreshälfte folgen. Denn das heutige Russische Haus wurde vor knapp 40 Jahren als »Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur« am 5. Juli 1984 unter allgemeinem Beifall auch aus dem Westen eröffnet. Die Aufgaben, sagt Iswolski, sind seither dieselben geblieben: »Es geht darum, die russische Kultur den Menschen in Deutschland zu vermitteln.« So einfach ist das.

In den deutsch-russischen Beziehungen nimmt das Haus eine Sonderstellung ein. Für Bild ist es eine »Kremlpropagandazentrale«. Nur ist solche Abwertung kein Bildungsmaßstab. Die Berliner Staatsanwaltschaft, die gegen das Russische Haus ermittelte und die Institution mal eben auf die Liste der Sanktionierten setzte, stellte ihre Ermittlungen denn auch ein. Somit atmen alle Freunde des Hauses auf: Die hasserfüllten Rufe derer, die eine Schließung des weltgrößten Kulturinstituts verlangten, sind substantiell verstummt.

Auf rund 29.000 Quadratmetern in sieben Stockwerken wird hier für die kulturelle Verständigung zwischen Deutschland und Russland gearbeitet. »Wir sind eine der Bastionen der kulturellen Brücke zwischen den Ländern«, sagt Iswolski, und seine Leitfrage ist, kosmopolitisch gesehen, niemals out. Sie lautet: »Wer sind die Russen, wer sind die Menschen, die in Russland leben?«

Hier spricht am besten die Kultur selbst. Konzerte russischer Musiker, vom Chansonsänger Vlad Mayer, der mit den satirischen Songs von ­Wladimir Wyssozki auftritt, über den hoch­karätigen Folksänger Oleg Podolski bis zur puren Klassik, etwa mit dem Pianistenpaar Jana und Filipp Subbotin, betören nicht nur russische Herzen. Die wechselnden Ausstellungen auch über Sach- und Wissenschaftsthemen regen zum Staunen und Diskutieren an. In der Keramikwerkstatt begegnen sich junge und ältere Menschen unter Anleitung auf russisch, deutsch und englisch, um sich künstlerisch auszudrücken.

Russisch bleibt

Wenn man genügend erholt ist, geht es ab in den Sprachunterricht. Sonnabends wird für die Kinder Berlins, die Russisch lernen oder bilingual aufwachsen, Zusatzunterricht angeboten. Die Mehrheit der Kinder hier hat russischsprachige Eltern. Um früh einen Bezug zur großartigen Kultur der Russen zu erhalten, ist der Sprachunterricht aber für alle Kinder sinnvoll. Märchen- und andere Kinderfilme, die im hauseigenen Kino gezeigt werden, versüßen ihnen das Lernen.

Für die erwachsenen Berliner gibt es Russisch in legendären Intensivkursen, doch auch langsames Lernen ist im Russischen Haus möglich. Und: In Kooperation mit dem Moskauer Puschkin-­Institut finden Zertifikatsprüfungen statt. Einmal jährlich zieht zudem die »Woche der russischen Sprache« das Fachpublikum an. Auch Catrin Fuchs aus Thüringen kennt das Haus von diesen Tagungen. Gleich nebenan, erst zur letzten Weihnachtszeit eröffnet, residiert der größte russische Buchladen in Deutschland. Hier kann man seine bevorzugte Lektüre einkaufen. Die Literatur ist bekanntlich vielfältig und nicht gerade kleingeistig.

»Die derzeitige Abwicklung der Russischunterrichte an den Schulen ist eine große Dummheit«, sagt Fuchs und begründet punktgenau: »Denn es wird eine Zeit nach den kriegerischen Auseinandersetzungen geben.« Dann werden Menschen mit Kenntnissen der russischen Sprache und Kultur wieder gefragt sein. Хорошо! Okay!

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