Nicht für die Katz
Von Arnold SchölzelMit einem Treffen vom 23. bis zum 25. Februar 1984 in Wendisch-Rietz am Scharmützelsee begannen vor 40 Jahren Gespräche zwischen Theoretikern aus SED und SPD. In Washington war Ronald Reagan seit 1981 Präsident und sofort mit maßloser antikommunistischer Hetze angetreten: Er wolle »den« Kommunismus als »bizarres Kapitel in der Geschichte der Menschheit abtun, dessen letzte Seiten noch geschrieben werden«. Die Sowjets stünden »im Mittelpunkt des Bösen in der modernen Welt« (März 1983). Den Worten folgte ein gigantisches Aufrüstungsprogramm, das im Herbst 1983 in der Stationierung von Mittelstreckenraketen und Cruise-Missiles in Westeuropa gipfelte.
Die DDR strebte mit der Formel ihres Staats- und Parteichefs Erich Honecker ungeachtet des neuen »Raketenzauns« (auch sowjetischer Raketen in der DDR) weiterhin eine »Koalition der Vernunft« mit der Bundesrepublik an. Das missfiel der sowjetischen Führung, die Honecker bei einem Geheimtreffen im Sommer 1984 Verrat vorwarf und ihm verbot, der BRD einen Staatsbesuch abzustatten. Der kam erst im September 1987 zustande – kurz nach Veröffentlichung des SPD-SED-Papiers »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit«. Es war aus den Gesprächen, die 1984 begonnen hatten, entstanden.
In Bonn wiederum führte die Regierung von Helmut Kohl, der am 1. Oktober 1982 Bundeskanzler geworden war und sich an der Spitze einer »geistig-moralischen Wende« wähnte, die Verständigungspolitik der SPD-Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt gegenüber der DDR fort. Die nunmehr bis 1998 oppositionelle SPD akzeptierte die Existenz der DDR im europäischen Staatengefüge. Ihre Politiker drängten sich sogar, um Termine bei Honecker zu erhalten. Auch Olaf Scholz, von 1982 bis 1988 stellvertretender Vorsitzender der Jungsozialisten und Gegner des Stationierungsbeschlusses, reiste laut den Unterlagen des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit zwischen September 1983 und 1988 neunmal zu politischen Gesprächen mit FDJ und SED in die DDR. Das gehörte zum guten sozialdemokratischen Ton.
Europäische Sicherheit
Neben den Wissenschaftlern beider Parteien kamen zwischen 1984 und 1989 zwei weitere Arbeitsgruppen zu Gesprächen zusammen: Unter Leitung des SED-Politbüromitglieds Hermann Axen und des SPD-Außenpolitikers Egon Bahr tagten seit 1985 Experten, um über europäische Sicherheit zu sprechen. Sie legten 1985 einen Entwurf für die Einrichtung einer chemiewaffenfreien Zone in Europa vor, 1986 Grundsätze für einen atomwaffenfreien Korridor in Mitteleuropa und 1988 einen Vorschlag für eine Zone des Vertrauens und der Sicherheit in dieser Region. Ab 1986 führte eine weitere Arbeitsgruppe einen Dialog zu Fragen der politischen Erwachsenenbildung. Beide Seiten legten im September 1989 ihre Berichte zu Frieden sowie Ökonomie und Ökologie vor.
Mit der ersten Gesprächsreihe wurden die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee (ZK) der SED beauftragt. Die Idee dazu entstand in Begegnungen zwischen dem Leipziger Philosophen Helmut Seidel (1929–2007) und dem Vorsitzenden der Grundwertekommission, Erhard Eppler (1926–2019). Beide kannten sich seit den 1970er Jahren. Eppler, der zugleich Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages war, dachte zunächst an Treffen im Rahmen Evangelischer Akademien, Seidel an die DDR-Akademie der Wissenschaften. Eppler holte sich beim SPD-Vorsitzenden Willy Brandt und dem SPD-Präsidium die Genehmigung und schlug Herbert Häber, dem Leiter der Westabteilung des ZK der SED, der im Oktober 1983 in der BRD Gespräche mit führenden Politikern führte, eine Reihe von Wissenschaftlergesprächen vor. Danach stimmte auch Honecker zu, der aber keinen förmlichen Beschluss der SED-Führung herbeiführte. Die erste Diskussion beider Parteien zu Grundfragen konnte beginnen.
Der Philosoph Erich Hahn (geb. 1930), der neben dem Ökonomen Otto Reinhold (1925–2016), dem Direktor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften, als einziger DDR-Vertreter an allen sieben Gesprächsrunden teilnahm, schrieb in seinem 2002 erschienenen Buch »SED und SPD. Ein Dialog«, der Reiz des ganzen Unternehmens habe in der »Spontaneität, in einer Kette von Ungewissheiten und Überraschungen, in der damit verbundenen Spannung und Herausforderung« bestanden: »Ob wir weitermachen und zu welchem Thema, wurde jeweils am Ende der Tagung entschieden.« Erst 1986 entstand die Idee, ein gemeinsames Papier auszuarbeiten.
Keine Protokolle
Im Februar 1984 wurde intern – Journalisten wurden erst 1986 eingeladen – über »Probleme der Arbeit und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts« diskutiert (siehe Keller). Dem folgten im November 1984 in Freudenstadt im Schwarzwald das Thema »Aktuelle Fragen des Menschenbildes«, im Juni 1985 wieder in Wendisch-Rietz »Gesetzmäßigkeiten in Geschichte und Gesellschaft – Bewusstseinswandlungen in der Welt von heute«. Dann im Februar/März 1986 »Friedliche Koexistenz und Sicherheitspartnerschaft, Ideologie und Frieden«. Im Oktober 1987 »Entwicklungsprobleme der Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas«. Im April 1988 »Gesellschaftlicher Fortschritt heute«. Ein Jahr später, im April 1989: »Menschenrechte«.
Protokolle der Tagungen existieren offenbar nicht. Hahn hat in seinem Buch versucht, ihren Verlauf auf der Grundlage von Notizen Beteiligter zu skizzieren. Sein Resümee 2002: Es handelte sich um den Versuch, »einen im wahrsten Sinne des Wortes unkonventionellen Ausweg aus einer festgefahrenen und gefahrvollen internationalen Situation zu erproben«. Vieles sei damals naiv gewesen und überholt, und er befand, »dass nicht ein einziges der Probleme, um die es ging, gelöst ist«.
Es lässt sich sagen: heute weniger denn je. Dem Dokument »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« wurde auf der Linken vorgeworfen, es verharmlose den Imperialismus, wenn es ihm »Friedensfähigkeit« zugestehe (den analogen Vorwurf erhoben rechte SPDler und Konservative in bezug auf den Sozialismus). Hahn zitiert dazu den Philosophen Wolf-Dieter Gudopp aus einem Text von 1991, in dem das Nötige steht: »Allgemein gesehen ist es trivial, eine Friedensfähigkeit des Imperialismus anzunehmen; sie wurde immer vorausgesetzt, denn ohne sie wäre jedes Bemühen um Frieden von vornherein für die Katz.« Ist es nie. Reden ist allerdings erforderlich.
Erstes Gespräch: Probleme der Arbeit und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts
Das Einleitungsreferat über »wissenschaftlich-technischen und sozialen Fortschritt« hielt Otto Reinhold. Das Grundproblem bestehe darin, wissenschaftlich-technischen in ökonomischen und sozialen Fortschritt zu verwandeln. Wachstum sei für den Sozialismus unverzichtbar. Also sei die Kernfrage, welche Art Wachstum angestrebt werden solle. Gewährleistet werden müsste die Erreichung von vier Zielen: erstens die weitere Ausprägung solcher Vorzüge des Sozialismus wie soziale Sicherheit, das Wohnungsbauprogramm, die Umgestaltung der Arbeitsbedingungen. Das komplizierteste Problem sei, die Bedingungen für Vollbeschäftigung zu sichern. Zweitens gehe es um die erweiterte materielle Reproduktion und die Schaffung der materiellen Bedingungen für die allseitige Entwicklung der Persönlichkeiten. Drittens müsse ein wachsender Beitrag zur Erreichung beziehungsweise Gewährleistung des ökologischen Gleichgewichts anvisiert werden, und viertens gehe es um die Hilfe für Entwicklungsländer und die Sicherung der Verteidigungsfähigkeit.
Ausdrückliche Zustimmung fand seine These, dass Anstrengungen zur Sicherung von Arbeitsplätzen besser und billiger seien als die Bezahlung von Arbeitslosengeld. Die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit bezeichnete Reinhold als Grundwert des Sozialismus und entscheidende Voraussetzung für Demokratie. Die Auffassung, der Gesellschaft gehe die Arbeit aus, wurde aus prinzipiellen und pragmatischen Gründen kritisiert. Reinhold berichtete schließlich von erheblichen Schwierigkeiten und Bemühungen, bedeutende industrielle beziehungsweise volkswirtschaftliche Strukturwandlungen mit möglichst geringen »Reibungen« zu vollbringen – langfristige Planung, gezielte Bildungsprogramme, demokratische Mitwirkung und rechtliche Absicherung seien dafür unumgängliche Voraussetzungen. An Einwänden und Fragen, in denen sich freilich – wie meist bei solchen Veranstaltungen – Standpunkte artikulierten, mangelte es nicht. (asc)
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Dass er dies war, lag aber nicht an Eppler und Bahr, sondern daran, dass der Imperialismus die Sowjetunion zum Zeitpunkt des Beginns der Gespräche bereits tot gerüstet hatte, und diese keinerlei ökonomischen Spielraum mehr besaß, was
wiederum Gorbatschow zu jenem Akteur werden ließ, der er wurde.
In Wahrheit begann die SED die Gespräche aus Position ideologischer und ökonomischer Schwäche, was die Sozialdemokratie in die Lage versetzte, ihre Gesprächspartner aus der DDR politisch über den Tisch zu ziehen.
Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Die in Rede stehende Schwäche gründet nicht, wie die Stalinisten sagen, im sogenannten Chruschtschow-Revisionismus, sondern in der Unfähigkeit des sozialistischen Lagers, eine Antwort auf den Strategiewechsel des Imperialismus gegenüber der SU nach 1945 zu finden. Um all das wird Schölzel wissen. Wieso schreibt er es dann nicht?
Das war genau im Sinne des Sozialdemokraten Bahr als Vater der Politik »Wandel durch Annäherung« (1963). Das Ganze roch nach »Freiheit der Kritik« (Lenin in »Was tun?«, Werke Bd. 5, S.364) – gibt es die heute? Und die Politik der friedlichen Koexistenz haben Lenin und Walter Ulbricht nie so gemeint. Bürgerliche oder sozialistische Ideologie? Ein Mittelding gibt es nicht, aber »beide Politbüros, das sowjetische und das der DDR, wussten natürlich ununterbrochen, dass der Westen sie mit seinem Frieden abschaffen will. Sie haben sich gegenseitig immer gesagt: Passt auf, der Feind meint es nicht gut mit uns. Und haben immer gehandelt, als meine es der Feind gut mit uns. Das heißt, obwohl sie wussten, dass sie sich abschaffen, schafften sie sich ab.« So Peter Hacks im Interview mit Matthias Hering und auch Arnold Schölzel in junge Welt vom 21.03.2003. Pardon. Letzterem sollte dies vielleicht doch als Doktor der marxistisch-leninistischen Philosophie zu denken geben? Auch das BSW sollte dies beherzigen. Imperialismus ist faulend, parasitär … und somit bei eben 300 Prozent nicht friedensfähig.
Während Honeckers »Koalition der Vernunft« mit der Bundesrepublik in Moskau entschieden abgelehnt wurde, wollte Reinhold, wie er im Gespräch mit dem Spiegel (36/87) erklärte, sich im »Prozess tiefgehender Wandlungen auf politischen, ökonomischen, sozialen und geistig-kulturellen Gebieten« in der DDR an der heuchlerischen Kritik Gorbatschows orientieren, die dieser an der sozialistischen Realität in der Sowjet-Union, in der »dieser Wandel, diese Dynamik nicht rechtzeitig durchgesetzt worden ist« und »ein Nachholbedarf besteht«, übte. Dabei, so meinte Reinhold, sollte die DDR mit der in der Arbeitsproduktivität überlegenen Bundesrepublik »zusammenwirken«, gleichzeitig in einem Wettbewerb, in einer Auseinandersetzung stehen. Letzten Endes wurde seitens der SED-Verhandlungsführer in den Gesprächen die von Lenin aufgeworfene Frage von Kompromissen völlig aus den Augen verloren oder auch bewusst negiert. Lenin lehnte bekanntlich im »Kampf für die Durchsetzung von Reformen«, Kompromisse nicht grundsätzlich ab, warnte aber, sie müssten sich »gegen die Opportunisten richten«, denen man auf diesem Gebiet nicht das Feld überlassen dürfe, und »ein Hilfsmittel für den Klassenkampf« sein. (Werke, Berlin (DDR-Ausgabe), Bd. 23, S. 80; Bd. 24, S. 235). Der zur SED-Delegation gehörende ZK-Mitarbeiter Manfred Uschner prahlte in seinem Buch »Die Zweite Etage« (Dietz Berlin 1993) damit, dass er die SPD über die Position der SED informierte. Erst im Februar 1989 wurde er auf Anordnung Honeckers aus dem ZK-Apparat entfernt.