junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 27. / 28. April 2024, Nr. 99
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 17.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Dialektik der Hure

Berlinale.Dialektik der Hure: »Reifezeit« bei den »Berlinale Classics«
Von Maximilian Schäffer
202408257_3.jpg
Auf dem Nachhauseweg in der S-Bahn im bösen Westberlin

Deutscher Staatsbürger durfte er nicht werden, aber Sohrab Shahid Saless drehte einige der brutalsten und genauesten Werke über die BRD überhaupt. 1974 verließ der damals 30jährige Perser seine Heimat, als staatsnaher Dokumentarfilmer des Schahs stand er bei den Mullahs auf der Feindesliste. Mehrere Erinnerungsversuche an Saless gab es in den letzten Jahren, 2016 zum Beispiel eine Retrospektive im Zeughauskino des Deutschen Historischen Museums. Der Deutschlandfunk berichtete 2023 in einem 20minütigen Radiospezial euphorisch von der Wiederentdeckung des Regisseurs. Schließlich zählten bajuwarisch-gesamtdeutsche Größen wie Werner Herzog und Herbert Achternbusch (ebenso wichtig, aber praktisch leider vergessen) zu seinen Verehrern. Und schließlich verlieh man Saless 1981 für »Grabbes letzter Sommer« den Grimme-Preis und 1974 für »Stilleben« den Silbernen Bären auf der Berlinale.

Passend zur gefühlten Neuausrichtung der »internationalen Filmfestspiele« zu »semi-deutschen Filmfestspielen« integriert das Festival Saless’ 1976 erschienenen Film »Reifezeit« in die Reihe »Berlinale Classics«. Insgesamt sind es zehn historisch wichtige Filme in digital restaurierten Fassungen. Darunter zwei von Ernst Lubitsch – der Stummfilm»Kohlhiesels Töchter« (1920) und sein erster Tonfilm, das Musical »The Love Parade« (1929), einem vom diesjährigen Empfänger des Goldenen Ehrenbären Martin Scorsese (»After Hours« von 1985), Andrei Tarkowskis letztem Film »Opfer« (1986) und nicht zuletzt dem ersten Godzilla – »Gojira« (1954) von Ishirō Honda.

Verirrt man sich (wie der Autor dieses Texts) ins falsche Kino und landet also bei Saless nicht bei Scorsese, wundert man sich nicht wenig. Sattes, konturscharfes Schwarz-weiß stellt sich einem entgegen. Die Eröffnungsszenen, reiner Terror: Stille und Gräue in hohen Kontrasten. Eine Wanduhr tickt gefühlte Ewigkeiten lang, eine Frau mit der letzten Kippe nach der Nachtarbeit im Bett. Dann ist Aufstehzeit für den achtjährigen Michael, seine Mutter schläft noch. Leise sein, weil Mama geschuftet hat. Sie ist Prostituierte in Berlin-Wedding, Michael nimmt sich ein paar Mark aus der Trinkgelddose. Welcher Mann die Spesen dort hinterlassen hat, weiß man nicht.

Saless macht es dem Zuschauer, nicht nur ästhetisch, auch moralisch nicht leicht. Der Haushalt der Hure und ihres einzigen Kinds ist von kleinlicher Armut und zielloser Einsamkeit geprägt. Michael schneidet aus Prospekten die schönsten Fahrräder aus, besticht seine Schulkameraden mit geklauten Schokoriegeln aus Jackentaschen, damit er wenigstens einmal eine Runde mit deren Drahteseln drehen darf. Die blinde Nachbarin, ebenso einsam wie er, den ganzen Tag alleine, deswegen misstrauisch und verbittert, verweist den Grundschüler auf eine Zukunft, die nicht seine werden soll. So bestiehlt er auch sie, unwesentlich zwar, ein paar Pfennige für die Besorgungen, die er für sie erledigt, aber doch von ekelhaftem Gewicht. Aus der von ihm so empfunden Widerlichkeit seiner »in Schande« lebenden Tochter macht auch Michaels Großvater keinen Hehl. Dem schieren Abschaum seiner Lenden gibt der Alte keine Almosen, nur ihrem bemitleidenswerten Spross, und der muss die Scheine auf dem Nachhauseweg in der S-Bahn wieder abgeben.

Alles das ist tragisch genug. Ungeachtet aller grundsätzlich asozialen Verhältnisse in der BRD: Als der Knabe seine Mutter unbemerkt bei der Fellatio für die Miete in der heimischen Wohnung beobachtet, stellt sich beim Zuschauer unweigerlich das Bedürfnis ein, das Kind diesem Umfeld zuhälterischer Gewalt und liebloser Sexualität zu entziehen. Auch das gehört zur »Dialektik der Hure«, der die Philosophin Theodora Becker kürzlich ein knapp 600 Seiten dickes, äußerst klug recherchiertes Buch widmete.

Sohrab Shahid Saless, dem man regelmäßig »Die Aufenthaltserlaubnis ersetzt nicht die Arbeitserlaubnis« in den Pass stempelte, hatte genug von Westdeutschland gesehen. Er siedelte in den 80er Jahren in die ČSSR über und starb, zwischenzeitlich vergessen, 1998 in den USA.

»Reifezeit«, Regie: Sohrab Shahid Saless, BRD 1976, 108 Min., »Berlinale Classics«, 20., 21. und 23. Februar

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.

Ähnliche:

  • Die Zeiten sind hart, aber Furlong (Cillian Murphy) ist entschlo...
    16.02.2024

    Aus dem Kohlenkeller

    Berlinale. Sinistre Nonnen, armes Irland: Der Wettbewerb eröffnete außer Konkurrenz mit der Literaturverfilmung »Small Things Like These«
  • »Wenn ich vor der Kamera weine, empfinde ich nichts dabei außer ...
    11.02.2022

    Vornehme Blässe

    Berlinale. Die »Hommage« widmet sich dem Lebenswerk von Isabelle Huppert

Regio:

Mehr aus: Feuilleton