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Aus: Ausgabe vom 17.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
»Euromaidan«

Vom Putsch zum Krieg

»Euromaidan«: Vor zehn Jahren erzwangen rechte Gruppen einen Regierungswechsel in Kiew
Von Reinhard Lauterbach
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Politisches Ziel mit Hilfe westlicher Verbündeter: Sturz der gewählten Regierung (Kiew, 11.12.2013)

Im September 2013 hielt sich eine Delegation prowestlicher ukrainischer Politiker zu Gesprächen im Auswärtigen Amt in Berlin auf. Bei der Gelegenheit veranstaltete die regierungsnahe »Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde« eine Podiumsdiskussion zur Lage in der Ukraine. Auf der Bühne in der Landesvertretung von Sachsen-Anhalt saßen fünf ukrainische Vertreter, darunter Arsenij Jazenjuk, der wenig später in die internationalen Schlagzeilen kommen sollte. »Helft uns«, war die einhellige Parole der Gäste, »wir kommen alleine nicht an gegen Janukowitsch« (den damaligen und 2010 in einer freien Abstimmung gewählten Präsidenten). Alle ihre Kampagnen blieben stecken, die Leute hätten kein Interesse an Politik. Sie seien mit dem Überleben beschäftigt.

Kurz zuvor hatte es im Fernsehen Bilder von kilometerlangen Lkw-Staus vor der damals visafrei zu passierenden ukrainisch-russischen Grenze gegeben. Der Grund: Russland machte einen »Testlauf« der ausführlichen Zollkontrollen, die erforderlich würden, wenn die Ukraine das damals auf dem Tisch liegende Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichne und damit wirtschaftlich eine EU-Außengrenze eingerichtet würde. Die Folge: Vor allem ukrainische Lebensmittel, wie sie damals reichlich nach Russland exportiert wurden, verdarben in der Sommerhitze. Die saure Milch und das vergammelte Fleisch sollten natürlich ein Signal an die beteiligten ukrainischen Unternehmen senden: auf den zur EU-Assoziierung bereiten Wiktor Janukowitsch einzuwirken, sich dies wegen der absehbaren Schädigung des Handels noch einmal zu überlegen. Janukowitsch versuchte zu lavieren und mit der EU auszuhandeln, dass er den zollfreien Handel in beide Richtungen beibehalten dürfe. Brüssel sagte: njet. Das hatte sogar eine gewisse Logik für sich: Man ist entweder in einer Freihandelszone oder draußen. Und da Russland keine mit der EU hatte, war Janukowitschs Problem immanent nicht zu lösen, wenn er gleichzeitig die bestehende mit Russland aufrechterhalten wollte.

Der Handelsstreit war nur die sichtbare Außenseite einer geopolitischen Schaukelpolitik, die die Ukraine betrieben hatte, seitdem sie sich 1991 aus der Sowjetunion verabschiedet hatte. Ein Präsident nach dem anderen hatte die »europäische Berufung« des Landes beschworen, ein Regierungschef nach dem anderen hatte mit Russland politisch motivierte Rabatte für Öl und Gas ausgehandelt, die Moskau in der Hoffnung gewährte, auf diese Weise die Ukraine wirtschaftlich abhängig und damit in seiner Einflusszone zu halten. Dazu kamen üppige Provisionen und Schmiergelder, die eine Generation ukrainischer Politiker reich machten, zum Beispiel Julija Timoschenko.

Jedenfalls: Janukowitsch musste sich entscheiden – und er versuchte, ein weiteres Mal zu tricksen. Beim EU-Gipfel in Vilnius am 23. November 2013 beantragte er, die vorgesehene Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens um zwei Jahre zu verschieben – »zur weiteren Prüfung«. Faktisch aber wollte er seine laufende Amtszeit bis zu den 2015 anstehenden Wahlen über die Runden bekommen, ohne seiner Wählerschaft in den Industrieregionen der Ost- und Südukraine Arbeitsplatzverluste wegen des wegbrechenden Russland-Handels zumuten zu müssen. Die EU war unangenehm überrascht; der langjährige Erweiterungskommissar Günter Verheugen (SPD) sagte im Rückblick, Brüssel hab sich »gewaltig verzockt«. Daran ist soviel wahr, dass das Abkommen eigentlich schon zwei Jahre vorher unterzeichnungsreif gewesen war. Aber die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte ihrerseits den Abschluss verhindert, um vorher noch ihre (europäische) Parteifreundin Timoschenko freizupressen, die in der Ukraine wegen Amtsmissbrauchs und Korruption inhaftiert war.

Aber Brüssel hatte offenkundig einen Plan B mit dem großen Vorteil, dass er nicht nach einem Plan aussah. Noch am selben Abend besetzten »proeuropäische« Aktivisten den Kiewer Unabhängigkeitsplatz und verlangten, Janukowitsch solle die Unterschrift sofort nachholen oder zurücktreten. Es wurden schnell einige tausend, die da im Schneeregen des beginnenden Winters ausharrten. Schon bald mischten sich Hardcorenationalisten unter die EU-Enthusiasten. Ihnen ging es darum, Janukowitsch und mit ihm den russischen Einfluss von der Wirtschaft bis zur Kultur loszuwerden. Schon drei Tage nach Beginn der Demonstrationen entstand der »Rechte Sektor«, ein Bündnis von Faschisten, das auch sofort anfing, Kurse in militanten Demonstrationstechniken und »Selbstverteidigung« anzubieten. Die Rechten wollten eskalieren – drei Monate später bekamen sie ihre Zuspitzung.

Hintergrund: Das Nachspiel

Die neuen Machthaber in Kiew fassten noch in den letzten Februartagen 2014 zwei weitreichende Beschlüsse: Das Flottenabkommen mit Russland über die Nutzung der Stützpunkte auf der Krim wurde – vertragswidrig – aufgekündigt, ebenso ein Gesetz von 2011 aufgehoben, das der russischen Sprache die faktische Gleichberechtigung im öffentlichen Leben garantierte.

Das erste rief Russland auf den Plan, das zweite die russischsprachige Bevölkerung der Krim sowie der Ost- und Südukraine. Im März fanden auf der Krim kurz nacheinander zwei Referenden statt, das erste über den Austritt der Halbinsel aus der Ukraine, das zweite über den Beitritt der Region zur Russischen Föderation. Das erste war nach der ukrainischen Verfassung rechtswidrig, aber nachdem die neuen Machthaber die Verfassung auch mit Füßen getreten hatten, konnten sie sich darauf nicht mehr recht berufen.

Und Russland war erst recht nicht verpflichtet, sich an die ukrainische Verfassung zu halten. Also sei es auch nicht gehindert gewesen, dem Beitrittswunsch des zweiten Referendums stattzugeben. So hat es jedenfalls schon im April 2014 der Hamburger Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel in einem vielbeachteten FAZ-­Artikel analysiert. Die Mehrheit der Juristen hält die Übernahme der Krim für völkerrechtswidrig, was schon deshalb nicht stimmen kann, weil das Verhältnis der Ukraine zur Krim kein Gegenstand des Völkerrechts war, sondern des innerukrainischen Rechts, und die Krim nach ihrem Austritt ebenfalls mangels internationaler Anerkennung kein Subjekt des Völkerrechts war. Unter dem Strich hat Russland, das sicherlich bei der Organisation der Referenden die entscheidende Rolle spielte, Rechtslücken geschickt ausgenutzt.

Das Beispiel machte auch im Donbass Schule. Nach Maidan-Vorbild stürmten Demonstranten Amtsgebäude und bemächtigten sich der dort gelagerten Waffen. Manche Militäreinheiten gingen auch zu ihnen über. Im April 2014 begann die ukrainische Armee den Versuch der gewaltsamen Rückeroberung des Donbass. Er scheiterte zweimal – im Sommer 2014 und Anfang 2015 – mit russischer Militärhilfe und unter Beteiligung russischer Freiwilliger. Zwei Minsker Vereinbarungen, die dem Donbass eine kulturelle und politische Autonomie innerhalb der Ukraine sichern sollten, wurden nie erfüllt – Angela Merkel hat inzwischen zugegeben, dass sie auch von ihr nie ernstgemeint gewesen waren, sondern nur der Ukraine Zeit kaufen sollten. Mindestens 3.400 zivile Bewohner des Donbass wurden nach UNHCR-Angaben bis 2022 durch ukrainischen Beschuss getötet. Der Rest ist seit zwei Jahren Geschichte. (rl)

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (20. Februar 2024 um 11:21 Uhr)
    Ob die vertragswidrige Aufkündigung des Flottenabkommens maidanseitig tatsächlich erfolgte oder nur angekündigt worden war, ist mir nicht klar. Am 2.4.2014 meldete die FR jedenfalls, dass das Abkommen russischerseits gekündigt worden sei (damals unter http://www.fr-online.de/ukraine/ukraine--so-will-russland-die-ukraine-ruinieren-,26429068,26734882.html). Die Nutzung des Hafens Sewastopol war für Russland essentiell. Und zwar auch angesichts der Lage in Syrien, wo der Westen den Bürgerkrieg anheizte, u. a. um eine Gaspipeline von Katar nach Europa gegen Assad durchzudrücken und so Russland von Gasexporteinnahmen abzuschneiden. Russland hatte schon 2013 deeskalierend in den syrischen Krieg eingegriffen und die Vernichtung der Chemiewaffen angeschoben. Russlands Fähigkeiten zur Unterstützung Assads einzuschränken, wird eines der Motive für die völkerrechtswidrige westliche Unterstützung der Maidan-Revolte gewesen sein. Ab 2015 brachte sich Russland auch militärisch an der Seite Assads ein und konnte erfolgreich die Regierung Assad halten und den Bürgerkrieg eindämmen. Genützt hat es der Kasse Russlands indes nur wenige Jahre, wo die Nordstream-Pipeline gesprengt wurde. Ganz unten in der FR-Meldung übrigens der Hinweis, dass Janukowitsch »den russischen Präsidenten um den Einsatz von Truppen gebeten habe«. Wenn ein aus dem Jemen geflohener Präsident um Truppen aus Saudi-Arabien bittet, ist das bekanntlich akzeptiert. Wenn ein Herr Janukowitsch dasselbe macht, wird das im Westen hingegen von keinem akzeptiert. Die übliche Doppelmoral. Dabei ist russischerseits stets bestritten worden, den Aufständischen im Donbass Militärhilfe gewährt zu haben. Eingestanden ist m. W. einzig, dass russische Freiwillige im Donbass mitkämpften und dass über hundert russische Konvois mit Hilfsgütern wie Mehl oder selbst Trinkwasser über die Grenze geschickt wurden. Ukrainischerseits wurde gemunkelt, dass mit diesen Konvois auch Militärgerät verschoben wurde. Beweise sind mir da nicht bekannt.
  • Leserbrief von Hagen Radtke aus Rostock (18. Februar 2024 um 04:15 Uhr)
    Ich verstehe nicht, was an der völkerrechtlichen Situation uneindeutig sein soll. Man kann eben nicht einfach Teile des Nachbarlandes militärisch besetzen und dann unter der Besatzung dort Referenden abhalten lassen. Es spielt dabei auch keine Rolle, ob die Besatzungstruppen ohne Hoheitsabzeichen auftreten oder »in ihrem Urlaub« (aber seltsamerweise mit ihren Waffen) da auftauchen. Diese Besatzung, schon vor dem Referendum, ist der Bruch des Völkerrechts und das Referendum damit nichtig. (Ein historischer Präzedenzfall wäre der »Anschluss Österreichs«, über dessen Unwirksamkeit ja auch Einigkeit besteht.) Die Verfassung der Ukraine spielt dabei völkerrechtlich überhaupt keine Rolle, selbst wenn die komplett abgeschafft und die Ukraine z. B. plötzlich monarchistisch geworden wäre, wäre das eine innere Angelegenheit der Ukraine und hätte auf die völkerrechtliche Situation (also insbesondere die Garantie der territorialen Integrität) keinen Einfluss.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Ulf G. aus Hannover (20. Februar 2024 um 11:45 Uhr)
      Ergänzend zum bereits erfolgten Hinweis auf die völkerrechtsformende vergleichbare Sezession des Kosovo von Serbien möchte ich noch daran erinnern, dass die russischen Truppen auf der Krim im Jahr 2014 vollkommen legal stationiert waren. Das Abkommen mit der Ukraine gestattete bis zu 25.000 russischen Soldaten die Anwesenheit auf der Krim. Dieser Rahmen ist von russischer Seite nicht überschritten worden. Wenn sogenannte russische Freiwillige auf Seiten des Donbass mitkämpften, ist das natürlich grenzwertig, keineswegs aber außerhalb der westlichen Praxis. Auch die Ukraine wirbt um Fremdenlegionäre. Im Iran-Contra-Skandal hatten die USA Aufständische in Nicaragua unterstützt. Aufstandsschürung ist gängige Form westlicher Aggressivität, auch in Tschetschenien sollen Aufständische seinerzeit vom Westen unterstützt worden sein. Anhänger des Dalai Lama sind von den USA mit Waffen versorgt worden, und dann jammert man rum, dass der Dalai Lama in China nicht gern gesehen ist. Das Budapester Memorandum verspricht im Übrigen nur Hilfe gegen von außen erfolgende Angriffe auf die territoriale Integrität der Ukraine, nicht aber gegen Selbstauflösung des ukrainischen Staatsverbandes wie die ganz ohne russischen Einmarsch erfolgte Sezession der Krim.
    • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Berlin (19. Februar 2024 um 15:09 Uhr)
      Der NATO-Angriff auf Serbien hat vor vielen Jahren eine Büchse der Pandora geöffnet. Warnungen vor den absehbaren Folgen gab es zur Genüge und nicht wenige davon kamen damals aus Russland. Es war die NATO, die sie arrogant und absichtlich in den Wind schlug. Jetzt tut nur ein anderer dasselbe, was die NATO damals für absolut rechtens erklärte. Übrigens hat das »Verteidigungs«bündnis sich nie von seinem damaligen Handeln distanziert. Im Gegenteil. Das ist das Tragische an Pandoras Büchse: Sie lässt sich öffnen, aber nicht wieder schließen.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Michael S. aus Hamburg (17. Februar 2024 um 17:51 Uhr)
    Ich habe mich immer schon gefragt, ob die Geheimdienste der Ukraine und Russlands 2014 geschlafen haben. Wer hat wohl die Zelte der Maidan-Putschisten mit W-Lan, Essen und Logistik versorgt, die Oligarchen, auch die US-Botschaft (Frau Nuland »hat Kekse verteilt«). Warum hat Janukowitsch nicht den US-Botschafter ausgewiesen? Warum hat seine Regierung zugelassen, dass sich westliche Spitzenpolitiker auf dem Maidan die Klinke in die Hand geben und die Putschisten zu einem gewaltsamen Regierungssturz aufrufen? Wo waren die Geheimdienste, als vom Hotel Ukraina aus auf beide Seiten geschossen wurde, um die Situation eskalieren zu lassen? Man wusste doch: bei einer Patt-Situation braucht man eine Eskalation, um da wieder herauszukommen. Wenn man sich überlegt, welche weitreichenden Folgen dieser Regierungssturz hatte, dann wundere ich mich, wie dilettantisch und erfolglos der abgewehrt wurde.

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