4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Vielleicht ein Treppenwitz

Berlinale. Bruce LaBruces Pasolini-Adaption »The Visitor« im »Panorama«
Von Manfred Hermes
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Sinnlos überspannter Libidoavantgardismus (Filmszene)

Ende der 80er Jahre entstand »Queercore« als Nischenbewegung in den USA, auch Montreal war dafür ein wichtiges Zentrum. Dort brachte Bruce LaBruce einige Jahre lang J. D. heraus, ein collagehaft, schmutziges und schwarzweiß gedrucktes Fanzine, in dem ein Artikel witziger als der andere war. Das Queere funktionierte hier als Setzung und Absetzung. Sex und Sexualität lieferten die Themen und ein gewissermaßen politisches Substrat. Antagonistisch verhielt man sich allem »gayen« gegenüber: verbürgerlichte Lebensstile, gleichgeschlechtliche Ehe, der Diskurs der Liberalisierung und des »outings«. Wie es vorher war, gefiel J. D. einfach besser, es war offener und geiler, eben queer. Solche Reden waren damals eine Provokation.

Als Cineast mit filmtheoretischem Hintergrund, und das schloss schwule Erotika und Pornografie ein, drehte LaBruce 1989 mit »No Skin Off My Ass« auch einen ersten Langfilm. Inhalt: Ein in Robert Altmans »That Cold Day in the Park« vernarrter Friseurpunk rettet einen Skinhead von einer Parkbank und holt ihn in seine warme Wohnung. Nachdem er ihm ein Schaumbad eingelassen hat, versucht Bruce, den Skinhead zu behalten. Der aber entflieht und irrt weiter durch die Stadt. Die spannende Frage: »Wird er zum Friseur zurückkehren?«

In »No Skin« zeigten sich alle kurzweiligen, bissigen und charmanten Qualitäten von J. D., essayistische Teile verhandelten dann noch die pophistorischen Dimensionen des Skinheadismus. Da LaBruce selbst den Friseur spielte, gehörte auch Exhibitionismus zu diesem neuen Realismus, sowie das Diktum: »Es ist hier alles aus anderen Filmen.« Und so ist es nach all den Jahren und vielen Filmen, auch tatsächlich pornoindustriellen, bei Bruce LaBruce geblieben.

Für »The Visitor« hat er nun Pasolinis »Teorema« von 1968 zum Angelpunkt gemacht. Bei Pasolini kommt eine engelsartige Figur als gut aussehender Mann ins großbürgerliche Haus und steigt nacheinander mit der Haushälterin, dem Sohn, der Tochter, der Mutter, schließlich dem Vater ins Bett. Die sexuelle Begegnung löst jeweils große Veränderungen aus. Die Tochter erkrankt an der Seele, der Sohn wird modernistischer Künstler, die Mutter eine dauergeile Cruiserin. Nur die Haushälterin wird von der Heiligkeit des sexuellen Aktes real affiziert, denn sie wird selbst zur proletarischen Version des Heiligen.

LaBruce unterlegt diese Vorgabe mit dem Thema der Migration. Ein Koffer wird wie eine gefährliche Schote in einem Horrorfilm am Themeufer angespült und es entsteigt ihm ein muskulöser nackter Schwarzer.

Dieser bedrohliche und wie bei Pasolini schweigende Eindringling ist kein Wesen aus einem Zwischenreich, sondern wird dem »globalen Süden« zugeordnet. Er kommt in das Haus einer von ihrem Reichtum strangulierten Familie, deren Kinder zickige, genderfluide Gen-Z-Parodien und echte Nervensägen sind. Es treffen hier, »politisch« möglicherweise nicht ganz unproblematisch, ein erschlaffter Westen und ein ganz unschlaffes Afrika aufeinander.

Bruce LaBruce hat diesen Film durchgehend mit Männern besetzt, bis auf Amy Kingsmill, die die Mutter so aufgedreht »camp« spielt, dass sie an Divine in den frühen John-Waters-Filmen erinnert und überhaupt viele weitere Ironiephasen aufruft. Aber der »Trash« dieses Films ist visuell schon sehr aufpoliert. Wie in »The Raspberry Reich« (2004) nimmt das Bunte ästhetische Anleihen beim Agitprop, mit primärfarbenen Feldern, Schriftbildern, Flackereffekten und einem schrillen Pamphletismus. Jetzt ist nicht mehr die Heterosexualität das Opium des Volkes wie in »Raspberry Reich«, jetzt muss der Arsch befreit werden beziehungsweise die entsprechende Leibesöffnung.

Niemand wird von einem Bruce-LaBruce-Film Pasolinis herbe Eleganz oder heiligen Ernst erwarten. Aber sein Zugang wirkt inzwischen flau. Hier herrscht eine so gut wie sinnlose Überspanntheit, in der das Humorige nicht einmal mehr witzig, sondern wirklich langweilig ist.

Überhaupt scheint hier vieles an ein Ende gekommen. Wäre es nicht ein kunsthistorischer Treppenwitz, wenn ausgerechnet ein Bruce-LaBruce-Film zum Kenotaph eines Libidoavantgardismus würde, der im gesamten 20. Jahrhundert so einflussreich war?

»The Visitor«, Regie: Bruce LaBruce, UK 2024, 101 Min., »Panorama«, 17., 18., 20. und 22. Februar.

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