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Aus: Ausgabe vom 16.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Berlinale

Aus dem Kohlenkeller

Berlinale. Sinistre Nonnen, armes Irland: Der Wettbewerb eröffnete außer Konkurrenz mit der Literaturverfilmung »Small Things Like These«
Von Peer Schmitt
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Die Zeiten sind hart, aber Furlong (Cillian Murphy) ist entschlossen, sich nicht unterkriegen zu lassen

Nun hat die Berlinale doch noch ihren Star zur Eröffnung, auch wenn es vorgeblich nur um die kleinen Sachen geht. Cillian Murphy heißt der Star. Ihm wird zwar nicht unbedingt primär wegen der Berlinale so viel Aufmerksamkeit geschenkt, sondern weil er zufällig auch die Titelrolle in Christopher Nolans »Oppenheimer« gespielt hat und für einen Oscar in der Kategorie »Bester Hauptdarsteller« nominiert ist. Aber er ist tatsächlich in Berlin, um die Spiele beginnen zu lassen (wenn auch außer Konkurrenz). Und das mit einem Film, in dem er praktisch jede Einstellung dominiert oder zumindest jede zweite. Der Eröffnungsfilm des Wettbewerbs, »Small Things Like These« von dem belgischen Regisseur Tim Mielants, ist eine einzige große Cillian-Murphy-Show. Man sieht Murphy in der Wohnküche beim Tee, auf frühmorgendlicher Straße im Schneeregen, im Pub, am Steuer seines Kohlenlasters, immer leicht weggetreten, isoliert, nachdenklich, glubschend, sich erinnernd, halluzinierend.

Murphy spielt Bill Furlong, einen selbständigen Kohlen- und Brennstoffhändler in einem irischen Nest in den frühen 1980ern. Das Zeitkolorit ist minimal ausgespielt (die Kleidung, die Autos, Telefone, man hört Human League im Pub). Der Kohlenhändler ist offensichtlich grüblerisch veranlagt und hat ein gar nicht so kleines Kindheitstrauma mitgekriegt auf seinem Weg, der aber gar nicht so rabenschwarz ist, obwohl ständig Krähen am Himmel kreisen oder sich auf den Kirchtürmen drohend niederlassen.

Sein Geschäft brummt halbwegs, man kommt über die Runden. Der Kohlenhändler ist ein glücklich verheirateter Familienvater, seine Wohnküche ist voller Töchter (fünf an der Zahl), sie sind fleißig, brav und intelligent. Es hätte schlimmer ausgehen können für ihn. »Furlong had come from nothing. Less than nothing, some might say« (Er kam von unten. Von ganz unten, würden einige sagen), heißt es in der Romanvorlage der irischen Schriftstellerin Claire Keegan, die auch am Drehbuch mitgeschrieben hat. Keegan ist im Literaturbetrieb keine kleine Nummer. Murphy, der ja ebenfalls in Irland geboren ist, liebt ihre Texte, heißt es. Und dann kann man sich vorstellen, wie das abgelaufen ist, dass es zu dieser Verfilmung des 2021 erschienenen Romans kam. Matt Damon und Ben Affleck (die beide, wie auch Murphy, mitproduziert haben) hatten vielleicht eine »raving review« des Buches in der New York Times gelesen und sich die Rechte gesichert. Das Ganze könnte man dann – praktisch steuerfrei – drüben in Europa am besten zusammen mit den Belgiern drehen und auf dem Festivalcircuit laufen lassen, da hat man ja immer Problemfilmbedarf, dachten sie sich. Und so ist es schließlich auch gekommen. Der Kirche kann man nebenbei auch einen reinwürgen, die hat schließlich einen Haufen Dreck am Stecken. Ein perfektes Problemfilmsujet.

Denn die Geschichte des Kohlenhändlers, der von ganz unten kam und es dennoch stets gut meint mit Freunden, Nachbarn, Angestellten und Familie, ist keine Aufstiegsgeschichte und auch kein »Bildungsroman« – wie »David Copperfield«, das Buch, das sich der Kohlenhändler von seiner Ehefrau zu Weihnachten wünscht, vielleicht, weil es auch von einem Kind ohne Vater handelt, sehr früh verwaist. Nein, es handelt sich um irischen Sozialhorror in Reinkultur.

Die so allmächtige wie sinistre irische katholische Kirche hat es mal wieder gehörig verbockt. Und betrachtet man die inzwischen bekannten historischen Tatsachen, dann hatte sie es über Jahrzehnte (und wir zählen dabei nur die irisch republikanischen Jahre, also seit 1922). Das Problemthema in »Small Things Like These« sind die sogenannten Magdalenenheime. Eine ursprünglich protestantische, später hauptsächlich katholische Institution: Arbeitshäuser für »gefallene Frauen«, Prostituierte, nichtehelich schwangere Mädchen, Schulschwänzerinnen usw. Es gab sie seit dem späten 18. Jahrhundert und nicht nur in Irland. Da aber wurde das letzte erst 1996 geschlossen, und die Realität dort war eine grausame. Die irische katholische Kirche hat mit diesen Heimen ein nettes Nebengeschäft aufgezogen: Sklavenarbeit in Wäschereien, Kinderhandel, sogar medizinische Experimente. Leichen pflasterten mal wieder den Kirchenweg. Zum Thema gab es natürlich auch schon Spielfilme: Peter Mullans »The Magdalene Sisters« (2002) oder Stephen Frears’ »Philomena« (2013).

Zu den Kunden des Kohlenhändlers gehört das örtliche Konvent (der Roman spielt in der Kleinstadt New Ross im Südosten Irlands). Im Kohlenkeller findet er eines der misshandelten Mädchen, Heiminsassin. Emily Watson spielt die sehr böse Äbtissin. Die serviert den Tee wie einen Schierlingsbecher und raschelt mit den Geldscheinen, als wollte sie einem damit das Genick brechen. Sinistre Nonnen, das knallt immer: »These nuns have a finger in every pie« (diese Nonnen haben überall die Finger drin). Erst recht in der Weihnachtszeit, in der der Film spielt.

Im kalten Dezember der Krähen kann sich der Kohlenhändler noch so anstrengen, sich den sehr schwarzen Kohlenstaub von den schmutzigen Händen zu waschen. Die Last wird nicht geringer. Die eigene Kindheit als nichtehelicher Sohn einer Dienstbotin im Haus einer wohlhabenden protestantischen Witwe war auch nicht leicht. Besser man trage auch des anderen Last. Er wird das misshandelte Mädchen aus dem Konvent befreien. Er war davon überzeugt, dass er es irgendwie hinkriegen würde. So wie der Festivalwettbewerb vielleicht auch.

»Small Things Like These«, Regie: Tim Mielants, Irland/Belgien 2024, 96 Min., Wettbewerb, 16. und 18. Februar

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