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Aus: Ausgabe vom 16.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Krieg und Kultur

Sätze eines Verlierers

Weshalb Teodor Currentzis bei den Wiener Festwochen nicht dirigieren darf
Von Kai Köhler
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Hier darf er noch: Teodor Currentzis dirgiert Mozarts Oper »Idomeneo« (Salzburg, 2019)

Im Sommer 2023 schmückte sich die ukrainische Dirigentin Oxana Liniw im Konzerthaus Berlin bei Beethovens Fünfter Sinfonie mit gelbblauer Schärpe. Die Musik wurde zur tönenden Propaganda umfunktioniert, für die Regierung in Kiew, die mit Beethovens Vorstellungen von einer humanen Zukunft kaum eben viel zu tun haben dürfte.

Daher muss man Milo Rau, seit 2023 Leiter der Wiener Festwochen, eine gewisse Naivität bescheinigen. Rau hatte Liniw eingeladen, mit Musikern aus Kiew das Requiem »Babyn Jar« von Jewgen Stankowitsch aufzuführen. Einige Tage später sollte Teodor Currentzis das »War Requiem« von Benjamin Britten leiten. Nun hat zwar Currentzis die russischen Militäroperationen niemals gutgeheißen – er dirigiert aber weiterhin in Russland.

Unerträglich für Liniw. Nach dem Motto: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, übersteigt offenbar die Weigerung eines Musikers, Kriegspartei zu ergreifen, ihre Vorstellungskraft. Kurz: Sie drohte mit Absage, sollte die Festspielleitung Currentzis nicht ausladen.

Nun wäre ein Verzicht auf Musik von Stankowitsc zu verschmerzen. Dessen zahlreiche Auszeichnungen reichen zwar vom »Orden der Völkerfreundschaft« 1982 bis zum »Held der Ukraine« 2009. Seine Musik wird aber erst seit 2022 in nennenswertem Umfang im Ausland aufgeführt. Liniw hat auch außerhalb Wiens ausreichend zu tun, und wenn sie nicht will – man braucht sie nicht. Milo Rau indessen lavierte ein paar Tage, beugte sich dann dem Druck und sagte Currentzis ab.

Dazu lieferte er Floskeln, wie die von den »Diskussionsbeiträgen als Beginn einer so herausfordernden wie notwendigen Debatte«, oder dass sich »alle Künstler:innen mit ihren Arbeiten wohlfühlen« müssten, weshalb er wohl einige von denen hinauswarf. Das sind Sätze eines Verlierers, der nichts über Kräfteverhältnisse sagen mag.

Wie aber stellen die sich dar? Knapp zwei Jahre nach der Ausweitung des Ukraine-Krieges ist die anfängliche Hysterie verflogen. Russische Musik ist im Repertoire wie eh und je, die meisten russischen Künstler treten unbeanstandet auf, und sogar den Feinden Anna Netrebkos kommt allmählich die Lust, vor Opernhäusern zu demonstrieren, abhanden. Ist aber erst einmal Aufmerksamkeit geweckt, zeigt gar eine prominente Anhängerin der ukrainischen Regierung ihre angebliche Empfindlichkeit her, dann ist der Ausgang des Spiels immer noch klar. Es geht dann nicht ums allseitige Wohlfühlen, sondern um Diskursmacht.

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  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Marc P. aus Cottbus (16. Februar 2024 um 12:01 Uhr)
    Es ist doch sehr beispielhaft für den niedrigen Grad der Emanzipation, einerseits, und das hohe Maß an Bigotterie und Realitätsverweigerung andererseits, in Politik, Medien und dem etablierten, zumeist staatlich geförderten Kulturbetrieb hierzulande, wenn man sich mit der Regierung eines Staates solidarisiert, welcher die nationalistischen Judenmörder und Kollaborateure des Zweiten Weltkriegs auf vielfache Weise als Helden verehrt, deren faschistischen Gruß »Slawa Ukrajini« man gern zitiert, und man dann ausgerechnet die Aufführung eines Requiems, das den Massenmord an den Juden in der Ukraine betrauert, durch eine ukrainische Nationalistin als Ausdruck der Solidarität mit dieser Regierung feiert, in einem der größten Konzerthäuser des Landes, inmitten seiner Hauptstadt. Wie (selbst-)verlogen, dumm und unmoralisch müssen solche Menschen sein? Möglicherweise orientiert man sich diesbezüglich – wie so oft – auch nur an Nordamerika, wo man in der obersten Volksvertretung Kanadas jüngst einen ukrainischen SS-Veteranen als Freiheitshelden beklatscht hat.

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