4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 16.02.2024, Seite 8 / Ansichten

Ein bisschen zündeln

Von Reinhard Lauterbach
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Aserbaidschanischer Soldat bei einem Dorf in Bergkarabach (18.1.2021)

Wenige Monate nach der militärischen Niederlage von Bergkarabach und seiner Schutzmacht Armenien werden neue Gefechte an der Grenze mit Aserbaidschan gemeldet. Ein zwingender Grund dafür ist indessen nicht zu erkennen. Wie üblich beschuldigen sich beide Parteien gegenseitig, die Feindseligkeiten wieder aufgenommen zu haben. Werfen wir einen Blick auf die Motivlage – und die Geographie.

Der eine Schauplatz, von wo Aserbaidschan armenische Angriffe meldet, liegt relativ weit im Norden, nahe der Grenze zu Georgien. Ein anderer Ort aber, das armenische Grenzdorf Nerkin Hand, ist nicht weit entfernt von der Region, an der Aserbai­dschan über die Eroberung von Bergkarabach hinaus noch territoriales Interesse hat. Dabei geht es um einen Korridor durch den äußersten Süden Armeniens entlang der Grenze zum Iran bis in die auf drei Seiten von Armenien umschlossene aserbaidschanische Exklave Nachitschewan. Würde dieser Korridor geschaffen, entstünde erstmals eine durchgehende Landverbindung zwischen der Türkei und Aserbaidschan. An dieser Stelle hätte Baku ein Motiv und ein Kriegsziel, und Ankara erst recht.

Allerdings ginge es, falls Aserbaidschan hier einen Vorstoß riskieren sollte, um die Verletzung der international anerkannten Grenze der Republik Armenien. Das unterscheidet die aktuelle Situation von der rund um Bergkarabach, das innerhalb der Grenzen von Aserbaidschan lag und deshalb auch von niemandem formell als unabhängige Republik Arzach anerkannt war, auch von Armenien nicht. Ein Handstreich an dieser Stelle würde auch den kollektiven Westen vor eine delikate Situation stellen. Denn er kann nicht die Unverletzlichkeit der Ukraine in den Grenzen von 1991 proklamieren und gleichzeitig zusehen, wie von aserbaidschanischer Seite Fakten geschaffen werden. Präsident Ilham Alijew scheint sich jedoch sicher zu sein, dass er sich einen solchen Affront leisten könnte.

Armenien ist in einer fatalen Situation. Die Führung des Landes fühlt sich – nicht zu Unrecht – von Russland im letzten Krieg gegen Aserbaidschan im Stich gelassen. Nun hat der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan zu einer Umkehrung der Allianzen angesetzt. Erst vor zwei Wochen hat er erklärt, dass Armenien keine russischen Waffen mehr kaufen werde – aus »objektiven und subjektiven Gründen«. Die subjektiven kann man sich denken: Verbitterung über den, aus armenischer Perspektive, russischen »Verrat«.

Armenien kann sich einen neuen Krieg eigentlich nicht leisten. Aber seit wann handeln frustrierte Nationalisten immer rational?

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  • Leserbrief von Joachim Seider aus Berlin (15. Februar 2024 um 19:54 Uhr)
    Die armenische Führung unter Nikol Paschinjan hat sanft, aber beharrlich einen Schwenk von einer Garantiemacht zu einer anderen vorgenommen. Ob der grandiose Erfolg Paschinjans mit seinem Volksmarsch nach Jerewan vor Jahren auch etwas mit großzügiger Unterstützung seiner neuen Garanten zu tun hatte: Wir wissen es nicht. Aber seltsam war es schon, dass die USA in diesem abgelegenen Land plötzlich eine Botschaft mit 1.000 Mitarbeitern betrieben. Wenn eines sicher ist: Armenien wird das nächste Land, das auf dem Altar geopolitischer Interessen ausbluten darf. Zu groß ist der Hunger Westeuropas und der Türkei nach Erdöl und Erdgas aus Mittelasien, als dass ihm der Südzipfel Armeniens, noch dazu an der Grenze zum Iran gelegen, im Wege sein darf. Die kleinen Scharmützel von heute dürften nur die Vorboten großer Veränderungen sein. Die Armenier können einem leid tun: Wie die Ukrainer werden sie für fremde Interessen bluten dürfen, weil sie jetzt die falschen Freunde haben.

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