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Aus: Ausgabe vom 16.02.2024, Seite 5 / Inland
Arbeitssicherheit

Das BMAS und die Krebstoten

SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil bedauert berufsbedingte Sterbefälle - und stiehlt sich mit Tipps für Beschäftigte und Unternehmer aus der Verantwortung
Von Suitbert Cechura
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»Auch bei ständiger Vergiftung am Arbeitsplatz muss Händewaschen vor dem Essen sein« (Bauarbeiter in Köln)

Mit der Überschrift »Berufsbedingten Krebs stoppen« meldete sich Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Anfang des Monats in der Öffentlichkeit zum Weltkrebstag: »Jedes Jahr verlieren etwa 100.000 Beschäftigte in Europa ihr Leben aufgrund berufsbedingter Krebserkrankung. Der Hauptfaktor für diese traurige Statistik ist, dass Beschäftigte bei ihren Tätigkeiten krebserzeugenden Stoffen ausgesetzt sind, wenn sie z.B. Abgase oder Staub einatmen.«

Guter Rat ist billig

Eine erstaunliche Mitteilung, die Fragen aufwirft: Die hunderttausend Toten betreffen ja nur den Verantwortungsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). Was ist mit den anderen Ministerien, schließlich hat die EU für das Jahr 2020 allein 1,27 Millionen Krebstote vermeldet. Müsste sich nicht auch Minister Robert Habeck (Grüne), zuständig für Wirtschaft und Umwelt, melden? Immerhin sorgen seine Regelungen doch auch dafür, dass z.B. flächendeckend Dioxin übers Land verteilt wird und viele Waren krebserregende Weichmacher beinhalten. Und was ist mit Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) und Verkehrsminister Volker Wissing (FDP)? Schließlich findet sich auch im Urin von ernährungsbewussten Bürgern Glyphosat – also Partikel eines Stoffs, von dem der Hersteller zu vermelden weiß, dass er nur bei Beachtung aller Vorschriften für den Einsatz nicht krebserregend ist. Das ist nur ein Herbizid, hinzu kommen reichlich Pestizide in der Nahrung. Und deutsche Regierungen haben sich noch immer gegen Schadstoffbegrenzungen stark gemacht. Darüberhinaus sorgt bekanntlich nicht nur der Straßenverkehr für reichlich krebserregenden Feinstaub in den Städten.

Verwunderlich ist auch, dass hier eine Sache offen ausgesprochen wird und kein Schwein daran Anstoß nimmt: nämlich, dass die Ursachen für Krebs gar kein Geheimnis sind. In der Regel wird doch immer darauf verwiesen, dass die Ursache für eine Krebserkrankung nur schwer auszumachen sei, da viele Schadstoffe auf den Menschen einwirken, seine Lebensweise und Veranlagung eine Rolle spielen und eine eindeutige Zuordnung deshalb nur schwer möglich sei.

Die Zahlenangabe in der Mitteilung aus dem Hause Heil beruht – davon muss man ausgehen – auf Angaben zu anerkannten Berufskrankheiten. Wer sich aber einmal damit beschäftigt hat, dürfte wissen, dass es fast ein Ding der Unmöglichkeit ist, den erforderlichen Nachweis zu führen: dass zum Beispiel ein Krebs durch die Schädigung am Arbeitsplatz entstanden ist und nicht etwa durch das Einatmen von Bremsabrieb im Straßenverkehr oder durch Fasern in der Hausdämmung. Oder durch eine ungesunde Lebensweise. Raucher haben da schon immer schlechte Karten! Ist in ihrem Fall doch die Ursachenzuschreibung klar, auch wenn der Betreffende nur wenige Raucherpausen am Tag einlegt, aber 24 Stunden den Feinstaub in der Stadt oder alle Tage wieder am Arbeitsplatz einatmet. Um die Berufsbedingtheit eines Tumors anerkannt zu bekommen, muss es sich um ganz heftige und eindeutige Belastungen handeln. Auf Grund der geringen Anerkennungsquoten ist also davon auszugehen, dass die Zahl der berufsbedingten Krebstoten weit höher anzusiedeln ist.

Offen ist schließlich auch, an wen sich der Minister mit der Überschrift wendet. Ist er nicht wesentlich mitverantwortlich für Arbeitsschutzrichtlinien und bestimmt so zu einem großen Teil darüber, was die Menschen am Arbeitsplatz zu schlucken und einzuatmen haben? Von dieser Verantwortung spricht sich der Minister frei, wenn er mitteilt: »Das BMAS erinnert anlässlich des Weltkrebstages an die Notwendigkeit, Arbeitnehmer*innen vor dem Kontakt mit krebserregenden Stoffen zu schützen. Dies ist möglich mit dem sogenannten STOP-Prinzip.«

Verantwortlich für den Arbeitsschutz sind somit nicht diejenigen, die sich sonst gerne in die politische Verantwortung drängen, sondern Beschäftigte und Unternehmer. Denen steht das Ministerium mit »klugen« Tipps zur Seite.

Guter Rat ist billig: das »STOP-Prinzip«:

»S = Substitution – Gefährliche Stoffe sollten durch sichere Alternativen ersetzt werden. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine dieselbetriebene Bohranlage durch eine elektrisch betriebene Anlage ersetzt wird. Die Substitution ist im Arbeitsschutz die vorrangig in Betracht zu ziehende Maßnahme.« (BMAS) Das ist schon dreist. Da meldet der Minister, dass an vielen Arbeitsplätzen die Leute systematisch krank gemacht werden, und dann bittet er diejenigen, die die Arbeitsplätze einrichten, doch zu bedenken, ob es nicht gesundheitsschonendere Alternativen gibt. Dabei weiß der Minister nur allzu genau, nach welchen Kriterien Arbeitsplätze eingerichtet werden: Sie sollen sich lohnen. Wenn mit neuer Technik mehr Leistung in der bezahlten Zeit herausgeholt werden kann, wird sie eingesetzt. Wenn sie auch noch den Gesundheitsverschleiß reduziert, geht das in Ordnung. Wenn die Rücksichtnahme aber Kosten verursacht, werden diese möglichst vermieden oder klein gehalten. So hat zum Beispiel das Verbot von krebserregenden Weichmachern dazu geführt, dass die verbotenen Stoffe von der Industrie schnell durch andere gefährliche Weichmacher substituiert wurden, die sich jetzt bereits im Urin von Kleinkindern finden, wie die leitende Toxikologin vom Umweltbundesamt in der Süddeutschen vom 9. Februar erklärte.

Die Pose des Technikberaters

»T = Technische Maßnahmen – Von geschlossenen Systemen bis zur effizienten Luftabsaugung gibt es viele Techniken, die die Exposition gegenüber Karzinogenen drastisch reduzieren. Wo möglich, gewährleisten automatisierte Methoden Sicherheit für alle.« (BMAS) Vorschreiben will der Minister den Unternehmern den Einsatz von krebsvermeidenden Maßnahmen nicht. Lieber wirft er sich in die Pose des Technikberaters und tut so, als wäre fehlende Rücksichtnahme auf die Beschäftigten auf mangelnde Kenntnisse zurückzuführen. Dabei sind Unternehmer sehr versiert darin, die technischen Möglichkeiten im Sinne ihres Geschäftes zu taxieren.

»O = Organisatorische Maßnahmen – Abgetrennte Arbeitsbereiche, angepasste Arbeitspläne, damit weniger Beschäftigte über kürzere Zeiträume zum Einsatz kommen oder die feuchte Reinigung von Arbeitsplätzen vermindern die Risiken zusätzlich. Auch die persönliche Hygiene vor dem Essen oder Trinken spielt eine wichtige Rolle.« (BMAS) Wenn man vom Zweck der Produktion absieht, kann man sich vieles ausdenken, was in ihr anders gestaltet werden könnte. Schließlich sind die Arbeitsbereiche entsprechend einem reibungslosen Produktionsablauf gestaltet und finden Abtrennungen nur dort statt, wo sie keine Hindernisse darstellen. Die Empfehlungen von kürzeren Einsatzzeiten sind da geradezu rührend: So kann wenigstens die Vergiftung dosiert erfolgen und die Krankheit vielleicht verzögert werden! Feuchte Reinigung hilft bei Gasen und Dämpfen natürlich enorm, aber schließlich weiß auch der Minister, dass Ordnung sein muss, und dazu gehört Sauberkeit. Bei der will das zuständige Ministerium auch die Beschäftigten nicht aus der Verantwortung entlassen, selbst bei ständiger Vergiftung am Arbeitsplatz muss Händewaschen nach dem Toilettengang und vor dem Essen sein.

»P = Persönlicher Schutz – Wenn Substitution nicht möglich ist und technische und organisatorische Maßnahmen nicht ausreichen, sollten persönliche Schutzmaßnahmen zum Einsatz kommen, um Atemwege und Haut vor krebserregenden Stoffen zu schützen.« (BMAS) Weil der Minister nicht soweit gehen will, Unternehmern Vorschriften zu machen, mahnt er die Beschäftigten, gefälligst selbst für den Gesundheitsschutz zu sorgen. Mit Atemmaske oder Overall.

Auswirkungen dieses »STOP-Prinzips« auf die Arbeitswelt sind nicht zu erwarten. Deshalb ist davon auszugehen, dass der Minister sich zum Weltkrebstag im kommenden Jahr wieder mit »traurigen« Todeszahlen melden kann, vielleicht dann im Konzert mit seinen Kollegen.

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