junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Dienstag, 7. Mai 2024, Nr. 106
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Ausgabe vom 16.02.2024, Seite 3 / Schwerpunkt
Palästinenser-Hilfswerk

UNRWA unter Beschuss

Unabhängige Untersuchung zu Vorwürfen. Israel legt keine Beweise gegen Palästinenserhilfwerk vor. Einstellung der Arbeit droht
Von Jakob Reimann
3.jpg
Seit Kriegsbeginn tötete israelisches Militär mindestens 150 UN-Mitarbeiter (Gaza, 10.02.2024)

Die unabhängige Untersuchung der schweren Anschuldigungen gegen das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) hat begonnen. Unter Leitung der französischen Außenministerin Catherine Colonna hat am Mittwoch »eine unabhängige Expertengruppe« die Arbeit aufgenommen. Bislang ohne Belege vorzulegen, behauptet die israelische Regierung unter anderem, zwölf der 13.000 in Gaza tätigen UNRWA-Mitarbeitenden hätten beim Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober letzten Jahres eine Rolle gespielt. UNRWA-Chef Philippe Lazzarini weist Vorwürfe des Wissens über oder gar Kollaboration bei Hamas-Verbrechen seiner Behörde kategorisch zurück. Um Anschuldigungen eines Fehlverhaltens seitens UNRWA-Mitarbeitenden nachzugehen, arbeitet Colonnas Gremium mit Fachleuten dreier Institute aus Schweden, Dänemark und Norwegen zusammen. Ein Zwischenbericht sei für Ende März geplant, hieß es. Die Beschuldigten wurden unterdessen präventiv entlassen. Bereits Ende Januar hatte die UNO eine interne Untersuchung eingeleitet.

Ohne die größten Geber

Das UNRWA betreibt über 700 Schulen in Jordanien, Syrien, Libanon und den besetzten palästinensischen Gebieten für über 540.000 palästinensische Schüler, mehr als die Hälfte davon in Gaza. Insgesamt stehen 5,9 Millionen Menschen unter dem Mandat, UNRWA betreibt 140 Gesundheitseinrichtungen sowie 58 Camps, in denen oft die gesamte humanitäre Infrastruktur vom UN-Werk getragen wird. Als Reaktion auf die israelischen Behauptungen stellten viele westliche Geberländer – lange vor Beginn der unabhängigen Untersuchung und ohne Vorlegen von Beweisen – ihre Zahlungen an UNRWA ein; darunter die drei größten Geber, die USA, Deutschland und die EU. Zusammen überwiesen diese Länder 2022 rund 460 Millionen US-Dollar an das Hilfswerk, was knapp die Hälfte des Gesamtbudgets ausmachte.

»Länder, die die Mittel für das UNRWA aussetzen, befeuern den anhaltenden Völkermord an den Palästinensern«, titelte die Menschenrechtsvereinigung International Federation for Human Rights Ende Januar in einer Presseerklärung. Norwegen ist eines der größten Geberländer, die ihre Zahlungen nicht einstellen. Oslo kündigte an, die regulären Zahlungen auch weiter aufzustocken, sollte dies nötig werden. Die Zahlungen einzustellen »riecht für mich nach Kollektivbestrafung« aller Palästinenser, die »von den Leistungen der UNRWA abhängig sind«, erklärt der norwegische Außenminister Espen Barth Eide Ende Januar im Interview mit Al-Dschasira.

Der Vorwurf, UNRWA-Mitarbeitende hätten am Überfall vom 7. Oktober eine Rolle gespielt, wurde seitens der israelischen Regierung durch ein Papier untermauert, das die Geheimdiensterkenntnisse zusammenfassen soll. Dieses enthalte jedoch keinerlei Beweise für die schweren Anschuldigungen, berichteten vergangene Woche verschiedene Medienhäuser, die das Dokument einsehen konnten; darunter der britische Channel 4 und die Financial Times oder die US-Häuser AP und CNN. Andere Medien hätten das israelische Narrativ hingegen »weitestgehend akzeptiert« oder dieses gar »weiterentwickelt«, heißt es beim US-Thinktank Responsible Statecraft. Die renommierte New York Times etwa habe eine Vielzahl an Artikeln zum Thema geschrieben und ließ jedes Mal unerwähnt, dass das israelische Dossier keine Beweise enthalte.

Zuletzt behauptete das israelische Militär, ein weiteres Hunderte Meter langes Tunnelnetzwerk der Hamas entdeckt zu haben, das sich zum Teil auch unter der UNRWA-Zentrale befinden soll. Zum Beweis führten israelische Truppen internationale Reporter in die Tunnel. »Nach 20 Minuten Fußmarsch durch den stickig-heißen« Tunnel befänden sie sich unter dem UNRWA-Hauptquartier, gab Reuters am Sonntag den Oberstleutnant der Armee wieder, der die Führung leitete. Eine Geolokalisierung mittels Smartphone zur Verifizierung der Behauptung sei jedoch »unmöglich« gewesen. Die Bildaufnahmen, die ausländische Journalisten vom Tunnel machen durften, mussten im Anschluss vom israelischen Militär freigegeben werden. Nach Bekanntwerden des Hamas-Tunnels mit angeblicher Verbindung zur UNRWA-Zentrale hatte Israels Außenminister Israel Katz dessen Chef Lazzarini zum Rücktritt aufgefordert. Von diesen Tunneln habe er keine Kenntnis, so Lazzarini, Rücktrittsforderungen weise er zurück. Doch seien seit Beginn des Krieges am 7. Oktober fast 200 UNRWA-Einrichtungen »sowohl von der Hamas als auch von der israelischen Armee für militärische Zwecke genutzt worden«, erklärte Lazzarini. Bei Beschuss dieser Gebäude, in denen oft Vertriebene Schutz suchen, seien Tausende gestorben. Mindestens 154 UNRWA-Mitarbeitende wurden nach eigener Zählung getötet.

Totale Katastrophe

Anfang der Woche stimmte dann der US-Senat mit deutlicher Mehrheit für einen Gesetzentwurf, der neben sogenannten Hilfen für die Ukraine in Höhe von 61 Milliarden US-Dollar auch über 14 Milliarden US-Dollar für Israel enthält. Senatoren vom ultrarechten Flügel der Republikaner hatten mehrere Änderungsanträge erfolgreich eingebracht, die bei einem Inkrafttreten des Gesetzes eine Wiederaufnahme der UNRWA-Finanzierung auch künftig effektiv verhindern würden. Wenn die großen Geber ihre Finanzierung nicht wieder aufnehmen, ist UNRWA möglicherweise bereits Ende Februar gezwungen, seine Arbeit einzustellen. Was würde in diesem Fall geschehen? »Es wird eine totale Katastrophe eintreten, die das Leben von 1,5 Millionen Menschen bedroht«, erklärte Mohammed Essa aus Gaza, dessen Wohnhaus von israelischen Bomben zerstört wurde und der mit seiner Familie nun in einem der unzähligen Zelte in Rafah lebt, am Mittwoch gegenüber jW. »Die ganze Welt muss aufstehen, um dies zu verhindern.«

Hintergrund: Rafah

Sechs Tage nach Kriegsbeginn hatte das israelische Militär am 13. Oktober die 1,1 Millionen Menschen im Norden des Gazastreifens innerhalb von 24 Stunden zur Evakuierung südlich des Wadi Gaza aufgefordert. Der Flusslauf teilt die Mittelmeerenklave etwa mittig in zwei Teile. In den folgenden Monaten gab es ähnliche Aufrufe auch im Zentrum sowie in Teilen des Südens. Rund 85 Prozent der Bevölkerung in Gaza sind mittlerweile vertrieben, die meisten davon befinden sich in der südlichen Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten, deren Einwohnerzahl sich auf knapp 1,5 Millionen verfünffacht hat.

Auf ehemaligen Freiflächen sind dort dicht gepackte Zeltstädte entstanden, wie Satellitenaufnahmen zeigen. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu kündigte den Einmarsch in Rafah an, was selbst von engsten Partnern wie den USA und Deutschland kritisiert wurde. Doch Konsequenzen würde ein Angriff nicht mit sich bringen. »Wir werden Israel auch weiterhin unterstützen«, zitiert das zum Springer-Konzern gehörende US-Magazin Politico den Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates John Kirby.

Die humanitäre Lage in Rafah ist bereits jetzt unzumutbar. Es wüte »eine katastrophale Nahrungsmittelkrise«, schrieb die Hilfsorganisation Action Against Hunger am Montag. »Die meisten haben kaum oder gar keinen Zugang zu grundlegender Versorgung.« Nichtsdestotrotz bombardiert die israelische Armee das dichtgedrängte Gebiet. Allein am Montag seien durch Luftangriffe mindestens 67 Menschen getötet worden, berichtete die New York Times. Die Aussicht auf eine drohende Bodenoffensive sei »erschreckend«, so der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, denn es bestehe die Aussicht, »dass eine extrem hohe Zahl von Zivilisten, wiederum hauptsächlich Kinder und Frauen, getötet und verletzt werden«. »Angesichts des bisherigen Gemetzels in Gaza ist es leider nur allzu gut vorstellbar, was in Rafah geschehen wird«, fügte Türk hinzu. (jr)

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Mit aus der Luft abgeworfenen Flugblättern fordert Israel Kriegs...
    12.02.2024

    Rafah vor dem Sturm

    Gazakrieg: Israel befiehlt Einnahme der Grenzstadt. Zivilisten sollen Fluchtmöglichkeit erhalten
  • Nichts geblieben außer Trümmern: Rafah galt als letzte Zuflucht ...
    09.02.2024

    Bomben auf Rafah

    Gaza-Krieg: Netanjahu lehnt Waffenruhe ab. Israels Armee rückt in Richtung ägyptischer Grenze vor
  • Mit dem letzten Hab und Gut: Palästinenser am Strand von Rafah i...
    07.02.2024

    Kein Ort mehr sicher

    Krieg gegen Gaza: Süden des Küstenstreifens unter Beschuss. Zahlreiche getötete Zivilisten, Vertriebene leiden Hunger

Mehr aus: Schwerpunkt