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Aus: Ausgabe vom 15.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Rote Corvette aus dem All

Ein neues Kapitel der Raumfahrt: Colin Wests Spielfilm »Linoleum«
Von Ronald Kohl
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Glücklicherweise gibt es einen Raumfahrtingenieur in der Familie

Eigentlich wollte Cameron (Jim Gaffigan) nur einen Brief einwerfen. Adressiert ist der Umschlag an die NASA. Es ist eine ruhige Gegend, in der er wohnt, der typische Vorort. Für gewöhnlich kann man so etwas da gefahrlos tun. Doch kaum ist seine Bewerbung als Astronaut, mit Anfang 50 hat er beste Chancen, in dem gelben Kasten verschwunden, wird Cameron um Haaresbreite von einer herabstürzenden roten Corvette erschlagen. Einen angehenden Astronauten wirft so etwas nicht aus der Bahn. Was Cameron verblüfft, ist der Fahrer des demolierten Sportwagens. Der Typ sieht fast genauso aus wie er selbst, und er wird auch von Gaffigan gespielt, nur mit vollem Haar und Schnauzbart, während Cameron eher aussieht wie ein Philip Seymour Hoffman, den es bei einer Mondumrundung etwas in die Länge gezogen hat.

Während des Abendessens erzählt Cameron seiner Frau Erin (Rhea Seehorn) und den beiden Kindern von dem Erlebnis. Erin, die in einem Raumfahrtmuseum arbeitet, hält das Ganze für kompletten Blödsinn. Überhaupt hat sie die Absicht, sich von Cameron scheiden zu lassen.

»Linoleum – Das All und all das«, der im Original nur »Linoleum« heißt, ist ein Film, der davon lebt, dass sich der Zuschauer ständig fragt: Warum ist das jetzt so? Die Antworten fallen entsprechend unserer Phantasie aus, was auch für den Titel gilt. Das ist jedenfalls die von Drehbuchautor und Regisseur Colin West geäußerte Absicht.

Ich sage, der Film heißt so, weil Leinöl, der namensgebende Grundstoff des Linoleums, der Raketentreibstoff der Zukunft ist. In dem Zeug ist eine Menge Sonnenenergie gespeichert, aber es zerlegt nicht gleich die gesamte Technik, falls sich mal ein Funke verirrt.

Womit Cameron seine Rakete starten wird, bleibt freilich jedem von uns selbst überlassen. Fakt ist nur, dass wir seine ambitionierten Pläne verstehen. Außer seiner Frau verliert er nämlich auch seinen Job. Seit seiner Volljährigkeit moderierte er für einen lokalen Fernsehsender eine Wissenschaftssendung für Kinder. Seinen Platz nimmt nun ausgerechnet der Mann ein, der ihn fast mit seiner Corvette erschlagen hätte. Cameron bleibt nichts weiter übrig, als sich vor dem Fernseher seine alten Sendungen anzusehen; irgendeine Zentrale mit einem Monitor muss es schließlich in jedem Raumfahrtepos geben. Für uns sind diese Sendungen recht lustig, aber Cameron langweilt sich doch recht bald.

Im Krimi gibt es immer eine zweite Leiche, sobald die Handlung ins Stocken gerät. Noch eine Corvette vom Himmel fallen zu lassen, wäre sicher schräg gewesen, aber dann doch etwas gewagt. Also stürzt dann sicherheitshalber eine russische Rakete in Camerons Garten.

Solange die Untersuchungen andauern, muss die Familie das Haus verlassen, und wir erfahren etwas mehr über deren soziales Umfeld. Bei Freunden und Verwandten unterzukommen, ist ja auch nichts weiter als eine Marslandung ohne Funk und ohne Leinöl. Deshalb setzt es sich Cameron in den Kopf, das zu versuchen, was selbst der NASA noch nie gelungen ist. Er will die russische Rakete recyceln.

Keine Frage: Das ist schon eine andere Nummer als Kinderfernsehen. Ganz ohne Hilfe wird es wohl nichts werden. Glücklicherweise gibt es einen Raumfahrtingenieur in der Familie. Und so holt Cameron seinen demenzkranken Vater aus dem Altenheim. Was sie dann aus dem verbeulten Russenschrott basteln, sieht auf jeden Fall wie eine Rakete aus. Doch bevor wir uns der letzten, alles entscheidenden Frage widmen, noch kurz eine andere Sache: Wieso eine Corvette? Ich habe bis heute keine Antwort darauf gefunden. Bei dem Versuch, wenigstens den Preis zu erfahren (um die 100.000 Euro), bin ich auf den Seiten deutscher Corvette-Piloten gelandet. Dort wurde wiederholt ein angeblich von Ayrton Senna stammendes Zitat wiedergegeben: »Leute, die langsam fahren, sind hässlich und haben ansteckende Krankheiten.« Das klingt nicht nur poetisch, dieser Satz beschreibt auch auf den Punkt genau die Ausstrahlung von Camerons Doppelgänger. Irgendwie hängt eben alles zusammen, aber das ist jetzt alles egal, denn es läuft schon der Countdown. Wird die von Cameron und seinem Dad in der Garage zusammengebastelte Rakete starten? Garantiert! Die Frage ist nur, ob nach oben oder unten.

»Linoleum – Das All und all das«, Regie: Colin West, USA 2022, 101 Min., Kinostart: heute

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