Der schmale Grat
Von Kai KöhlerZuerst fehlte das Geld. Als im vergangenen Sommer der Staatszuschuss zur Berlinale um gut zwei Millionen Euro gekürzt wurde, sah die Leitung ganz brav noch »die Chance, mit einem konzentrierteren Programm die Präsentation und Wahrnehmung der eingeladenen Filme zu optimieren«. Weniger Filme also. Ähnliches lesen Bankkunden an der Tür ihrer geschlossenen Filiale, wo ein Zettel sie ans 24-Stunden-Callcenter verweist. Nachdem Mariette Rissenbeek bereits im März ihren Rückzug angekündigt hatte, entschied dann auch Carlo Chatrian im Spätsommer, nicht weiterzumachen. Die am heutigen Donnerstag beginnende 74. Berlinale wird die letzte dieses Leitungsteams sein.
Mit immer noch mehr als 200 Filmen und zahlreichen Diskussionsveranstaltungen ist freilich das Programm weiterhin opulent. Keines der großen Filmfestivals ist dem Publikum zugewandter als die Berlinale. Die Chance liegt nicht zuletzt im scheinbar Exotischen. Wo sonst hätte man die Möglichkeit, Filme aus Nepal, dem Kongo oder Burkina Faso im Kino zu sehen? Man würde gerne von Völkerverständigung reden, wäre nicht in einer Hinsicht die Berlinale Partei: Filme aus Russland und Belarus fehlen, während andere Länder, die Krieg führen oder deren Regierungen aus bürgerlich-westlicher Sicht fragwürdige Mittel anwenden, weiterhin vertreten sind.
Die roten Teppiche (recycelbar) sind ausgelegt, an Glamour wird es allerdings mangeln. Was in den letzten Jahren der langen Herrschaft Dieter Kosslicks begann, hat sich unter Rissenbeek und Chatrian verstärkt. Berlin ist nur noch in Ausnahmefällen ein Ort, den berühmte Regisseure und Schauspieler – oder ihre Produzenten – für Weltpremieren wählen. Dem Neuen, Unbekannten, dem aus unterschiedlichen Gründen an den Rand Gedrängten an prominentem Ort eine Chance zu geben, ist sicherlich gut. Nur müsste man dafür Sorge tragen, dass der Ort auch prominent bleibt. Dies scheint, was die Berlinale angeht, nicht gesichert.
Wie politisch ein Film ist, weiß man oft erst, wenn man ihn gesehen hat und nicht aufgrund einer notgedrungen kurzen Inhaltsangabe. Im ganz Kleinen kann sich ja ein Allgemeines zeigen. Die Lektüre von 200 Inhaltsangaben aber erlaubt Vermutungen über Trends. Häufig sind Familiengeschichten das Thema, Kleingruppen oder gar einzelne: »Tashiro, der Schüler eine Kochschule ist, hört Stimmen in seinem Kopf«, heißt es über den japanischen Film »Chime« in der Sektion »Berlinale Special«. Bald wird Tashiro glauben, die Hälfte seines Gehirns sei durch eine Maschine ersetzt worden. Vielleicht sind der Rückzug auf die Nahgruppe, die Verlegung des Kampfs ins Innere ein Symptom der Ratlosigkeit angesichts unübersichtlicher äußerer Konflikte. Vielleicht aber kommen nun die Filme ins Kino, deren Grundideen während der Coronapandemie entwickelt wurden, als gesellschaftlicher Austausch zeitweise auf ein Minimum beschränkt war.
Die aktuellen Kriege sind Thema, der in der Ukraine in der gewohnten konformistischen Propagandaform. Zum Gazakrieg wird auf dem Potsdamer Platz ein »Tiny House Israel Palästina« eingerichtet, ein Treffpunkt für einen »offenen Dialog«. Mit dem Dokumentarfilm »No Other Land« ist ein sehenswerter Beitrag zur israelischen Besatzungspolitik in der Westbank im Programm von »Panorama Dokumente«.
Aber: Vorsicht!!! »›No Other Land‹ enthält Darstellungen drastischer Gewalt«, heißt es in den »Content Notes«, die auf der Berlinale-Website analog zu Triggerwarnungen in zum Kindergarten mutierten Uni-Seminaren vor unangenehmen Überraschungen schützen sollen. Als könnte man nicht ahnen, dass es in Konfliktregionen manchmal zur Gewalt kommt, als sähe man nicht auf dem Rückweg aus dem Kino in Berliner U-Bahnstationen Obdachlose herumliegen, bei denen man nicht sicher sein kann, ob sie überhaupt noch am Leben sind. Zu dem belgischen Film »hold on to her« bei »Forum Expanded« lautet die Warnung: »thematisiert Rassismus und rassistische Gewalt«, was freilich jedem potentiellen Kinogänger nach auch nur oberflächlicher Lektüre der Inhaltsangabe klar sein müsste. Gleiches gilt für die »expliziten Sexszenen« in »The Visitor«. Der Grat zwischen politischer Rücksicht und Lächerlichkeit ist schmal.
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