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Aus: Ausgabe vom 19.02.2024, Seite 10 / Feuilleton
Pop

Brian Enos Geist

Parallelwelten: William Doyles Popalbum »Springs Eternal«
Von Alexander Kasbohm
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Nach dem Taumel: William Doyle

Einen guten Monat vor dem Erscheinen von »Springs Eternal« veröffentlichte William Doyle (Künstlername: East India Youth) die in vielerlei Hinsicht überraschende Vorabsingle »Now in Motion«. War Doyle bislang eher als ein Meister des Getragenen, Schwelgerischen, tendenziell Melancholischen aufgefallen, war die Single derart direkt poppender Pop, dass der Künstler im Blindtest von vielen – mich eingeschlossen – erstmal nicht erkannt wurde. So treibend und so catchy hat man Doyle noch nicht gehört. Die Sounds verweisen auf die Zeit zwischen etwa 1979 und 1981, als aus Punk langsam New Wave wurde, mit Bands wie Japan oder den ganz frühen, noch von John Foxx geführten, Ultravox. Irgendwann wird die Oberfläche durch eine krachende Gitarre zerrissen, das Verweisspiel so als Spiel kenntlich gemacht.

Die anderen beiden Stücke der Single, »Relentless Melt« und »Surrender Yourself«, halten Tempo und Bezugsrahmen, auf dem Album relativiert sich das, zumindest was das Tempo angeht, ein wenig. Was aber nicht gegen »Springs Eternal« spricht. Passend zum neuen musikalischen Terrain handelt das Album von den Wegen, die nicht beschritten wurden: Was wäre aus mir (bzw. William Doyle) geworden, wenn diese oder jene Entscheidung anders gefallen wäre? Oder wenn man in eine andere Zeit geboren worden wäre? Durch jede kleine Veränderung des Weges, den wir durch Raum und Zeit beschreiten, wird eine Lawine weiterer Veränderungen losgetreten. Bei dem Versuch, diese Veränderungen zu Ende zu denken, entsteht ein Taumel, man verliert den festen Boden unter den Füßen, das Fundament der Selbstverständlichkeiten löst sich auf. Und das ist der Moment, in dem – im realen Leben wie im Gedankenexperiment – der Geist hellwach wird. Als Panikreaktion, gewissermaßen. Es sind Lösungen gefragt, die zu erwägen bislang nicht nötig war.

Auch bei Doyle hat dieser bewusst herbeigeführte Verlust der Sicherheiten zu einem Kreativschub geführt. Er erschließt sich Räume, die ihm bislang unzugänglich waren. Bisweilen hat man den Eindruck, dass der Brian Eno der wilden Experimentierfreude Mitte der 1970er Doyle im Studio besucht und alles gründlich auf den Kopf gestellt hat. Tatsächlich steuerte Eno Rhythmustracks für die Stücke »Relentless Melt« und »Surrender Yourself« bei, aber die sind nicht so entscheidend. Es ist der Geist des Eno von »Here Come the Warm Jets« und »Taking Tiger Mountain«, der von Doyle Besitz ergriffen zu haben scheint. Es sind die unvorhersehbaren Momente, die den Taumel auch für den Hörer fühlbar machen. Anders als bei den vier Tracks der Vorabsingle wird der Tumult auf dem Album immer wieder von ruhigen, meist sehr sparsam instrumentierten Stücken wie dem bezaubernden »Castawayed« unterbrochen. Letzteres mag vielleicht das konventionell »schönste« Stück sein, das Doyle bislang geschrieben hat. In diesem Umfeld, das ständig mit dem Übergang zum Chaos spielt, gewinnt es noch zusätzliche Strahlkraft. Ähnlich das abschließende »Because of a Dream«.

Lyrisch begibt Doyle sich in die erwähnten Versionen seiner selbst aus parallelen Realitäten. Dieses Spiel führt schnell in Extremsituationen. Doyle spricht von »hyperrealen« Versionen seiner selbst. Die Frage »Wie würde ich mich unter Grenzbedingungen verhalten?« schärft selbstverständlich den Blick auf die eigene Person. Und kann einen dazu animieren, sich auch real in unbekannte Gewässer vorzuwagen. Im Falle von William Doyle hat es zu einem erwartbar sehr guten (selten gibt er sich mit weniger zufrieden), aber überraschend überraschenden Album geführt.

William Doyle: »Springs Eternal« (Tough Love/Cargo)

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