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Aus: Ausgabe vom 14.02.2024, Seite 5 / Inland
Bildungspolitik

Bei Schulabbruch Spitze

Nur drei EU-Staaten stehen in der Statistik schlechter da als Deutschland. Bildungsministerin beschwört »Trendwende«
Von Ralf Wurzbacher
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Die Bundesrepublik hatte 2022 eine Abbrecherquote von 12,2 Prozent

Für Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ist die jüngste Mitteilung der europäischen Statistikbehörde Eurostat ein Grund mehr für »eine bildungspolitische Trendwende«. Am Montag abend wurde bekannt, dass Deutschland die vierthöchste Quote an Schulabbrechern unter allen EU-Staaten aufweist und nur Ungarn, Spanien und Rumänien schlechter abschneiden. Aber: Eine »Trendwende« hatte die FDP-Politikerin schon einmal bei der Zahl der Profiteure der Bundesausbildungsförderung (BAföG) versprochen. Daraus wurde nichts nach ihrer ersten Reform vom Herbst 2022. Und daraus wird absehbar nichts mit ihrer zweiten Novelle, die kurz vor der parlamentarischen Beratung steht. Eine Erhöhung der BAföG-Bedarfssätze hält sie jedenfalls nicht für nötig. Woraus folgt: Leere Worte liegen bei der Ministerin voll im Trend.

In puncto Bildungspolitik gilt das seit langem und unabhängig davon, wer gerade in Bund und Ländern regiert. Die Zahl der Jugendlichen, die in der sogenannten Bildungsrepublik ohne Abschluss die Schule verlassen, liegt seit mehr als zehn Jahren konstant bei mehr als 50.000 oder um den Dreh von sechs Prozent. Wenn es 2022 in der EU-Perspektive doppelt so viele, nämlich 12,2 Prozent, waren, liegt das an einer anderen Zählweise. Eurostat erfasst auch all jene 18- bis 24jährigen als »frühzeitige Schul- und Ausbildungsabgänger«, die zwar einen Hauptabschluss, aber anschließend keine Aus- oder Weiterbildung absolviert haben. Die Methode stört den Bundesvorsitzenden des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE), Gerhard Brand. Damit werde der Hauptschulabschluss weiter entwertet, äußerte er sich gestern gegenüber junge Welt. »Was wir aber brauchen, sind junge Menschen, die motiviert sind, ihren praktisch gelagerten Fähigkeiten entsprechend handwerkliche Ausbildungsberufe anzunehmen.« Dass dies offenbar häufig nicht gelinge, »ist jedoch ein Problem«, weswegen das Unterstützungssystem zwischen Schule und Arbeitsagentur optimiert werden müsse. Das mahne deren Chefin Andrea Nahles »richtigerweise beständig an«, ergänzte Brand.

Die Kultusminister haben fast zwei Jahrzehnte lang den Bedarf an Pädagogen drastisch »unterschätzt«, was sich heute in Gestalt eines historischen Lehrermangels rächt. Massenhafter Unterrichtsausfall ist nichts, was Heranwachsende beim Lernen bei der Stange hält, so wenig wie Lehrpersonal, das auf dem allerletzten Bildungsweg im Beruf strandet. Es gibt heute Schulen, in denen von den Neueingestellten weniger als die Hälfte auf Lehramt studiert haben. Dazu kommen allerhand mehr Herausforderungen: zu große Klassen, übermäßige Verwaltungsaufgaben, Sprachdefizite von Geflüchteten oder die mit rigiden Coronalockdowns provozierten Lernrückstände. Dazu unsägliche Ratschläge von »Experten«. Nach der erneuten Schlappe Deutschlands bei der PISA-Studie betrieb OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher in zwei Interviews Ursachenforschung. Zitat: »Ich habe, ganz ehrlich, wenig Verständnis für Lehrer, die nur darauf pochen, dass sie überlastet seien.« Außerdem sei ihr Beruf »finanziell, aber nicht intellektuell attraktiv«. Das klinge nach »Stammtischparolen«, entgegnete der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Stefan Düll.

Die durchschnittliche Schulabbrecherquote in der EU hat sich von 2018 bis 2022 von 10,5 auf 9,6 Prozent verbessert. 2018 rangierte die BRD mit 10,3 Prozent noch über dem Strich, seit 2019 ging es dann bergab. Bereits 2021 lag Deutschland auf dem viertletzten Platz. »Das ist ein trauriger Offenbarungseid deutscher Bildungspolitik«, sagte am Mittwoch die Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke (Die Linke) im jW-Gespräch. »Weder die Bundesregierung noch die Kultusministerkonferenz bekommen es gebacken, Bildungschancen vom ökonomischen und sozialen Status der Familie zu entkoppeln.« Und weiter: »Ein völlig überlastetes und unterfinanziertes Bildungssystem ist nun mal kein Erfolgsrezept.« Gohlke plädierte dafür, »alle Anstrengungen auf längeres gemeinsames Lernen mit ausreichend Personal und multiprofessionellen Teams und kräftige öffentliche Investitionen auszurichten«.

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  • Leserbrief von Ilka Müller aus Bremen (15. Februar 2024 um 18:41 Uhr)
    Als jemand, der seit 37 Jahren im Bildungswesen arbeitet, erst in der DDR, dann in 3 verschiedenen westlichen Bundesländern, verfolge ich den Qualitätsschwund der Schulbildung hautnah, von immer neuen Reformsäuen verfolgt, die durchs Dorf gejagt werden und nichts bringen als kurzfristige Mitteleinsparungen. Die Ursachen des heutigen Lehrermangels gehen bis 1990 zurück, als man keine Lehrer einstellte und Schulen schloss, weil kurzzeitig die Schülerzahlen sanken. Viele Lehrer wichen in andere Berufe aus. Dann kamen Individualisierung, Inklusion, Abschaffung der Förderschulen, jahrgangsübergreifendes Lernen in der Grundschule, Binnendifferenzierung auf 2–3 Lernniveaus in einem Raum, immer noch die frühe Einteilung in Gymnasium und andere Schulformen. Das alles ist wissenschaftlich schon längst ad absurdum geführt worden, was hier aber niemanden interessiert. Die besten Ergebnisse im Vergleich haben Länder mit Schulen, in denen bis Klasse 10 alle zusammen lernen und dann erst das Gymnasium besuchen. Es gibt in keinem Bundesland einen Plan, der strukturiert, wirkungsvoll und ausreichend die Bedürfnisse von Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache berücksichtigt. Es ist eine Katastrophe und ich erlebe täglich, wie demotivierend diese unzureichenden Zustände auf diese Schüler wirken. Nicht ohne Grund ist die Zahl der Schulabbrecher unter ihnen am größten. Auch wenn man ausgebildete Lehrer nicht »backen« kann, so könnte man personell das Dilemma verringern, indem man Geld für nicht lehrendes Unterstützungspersonal bereitstellt, die die Lehrer von nicht zu ihren Aufgaben gehörenden Tätigkeiten entlasten, z. B. Administratoren im IT-Bereich, technisches Personal für Kopien, Einrichtung, Wartung technischer Geräte, medizinische Unterstützung, sozialpädagogische Unterstützung, Verwaltungsaufgaben, ganz wichtig für Aufsichten, Begleitung auf Fahrten und Ausflügen, Aufbau von Experimenten. Das alles sah ich schon an einer Londoner Gesamtschule 2000.

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