Hemmschwelle gesenkt
Von Knut MellenthinFragwürdige Parallelen zur Zeit der Naziherrschaft und speziell zum Holocaust entfalten in diesen Wochen ein beunruhigendes Eigenleben, ohne dass die Politiker, die scheinbar hemmungslos mit schiefen Vergleichen operieren, viel dafür können. Die »bösen Erinnerungen« kommen »unwillkürlich«, werden »geweckt« und »gefühlt«, »drängen sich auf«.
Zwei Ereignisse oder Vorgänge haben das Phänomen ausgelöst: die Proteste gegen die israelische Kriegführung im Gazastreifen und das von Mitgliedern der AfD und der CDU besuchte »Geheimtreffen« am 25. November vorigen Jahres, auf dem »faschistische Deportationspläne« diskutiert worden sein sollen. Öffentlich bekanntgemacht wurde diese Zusammenkunft in einem Gasthof bei Potsdam erst am 10. Januar durch das »gemeinwohlorientierte Medienhaus« Correctiv, das nach eigener Beschreibung »für investigativen Journalismus steht« und sich gern mit Gegnern der etablierten Parteien anlegt. Warum bis zur Veröffentlichung mehr als ein Monat verstrich, obwohl Correctiv das Politikertreffen im November direkt und intensiv observiert hatte, ist ungeklärt.
Holocaust bagatellisiert
Bei Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat das Bekanntwerden der dort vorgetragenen und erörterten »Remigrations«-Vorstellungen »unwillkürlich Erinnerungen an die furchtbare Wannseekonferenz geweckt«, wie sie der Funke-Mediengruppe am 20. Januar mitteilte. Sie wolle beides nicht miteinander gleichsetzen, sagte sie zwar, aber hielt es offenbar trotzdem für zweckmäßig, die Vorgänge in eine enge Beziehung zu bringen.
Für Ahnungslose erläuterte die Agentur Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) in ihrem Bericht über Faesers Äußerung: »Bei der Wannseekonferenz schmiedeten die Nazis 1942 Pläne zur Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Europas«. Die Formulierung lässt erkennen, dass man beim RND darauf verzichtet hatte, sich wenigstens die ersten beiden Absätze des Wikipedia-Eintrags anzusehen: Die Entscheidung zum Start der zweiten Etappe der »Endlösung« – die erste Phase hatte mit organisierten Massenmorden sofort nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begonnen – war schon vor der Konferenz gefallen, die am 20. Januar 1942 stattfand.
Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), Reinhard Heydrich, hatte am 31. Juli 1941 von Hermann Göring den schriftlichen Auftrag erhalten, »alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflussgebiet in Europa«. Das Treffen in einer Villa am Wannsee bei Berlin, an dem Vertreter der zu beteiligenden Institutionen des Regierungsapparats teilnahmen, diente Heydrich dazu, seine Beauftragung formal mitzuteilen und die praktische Umsetzung des in großen Zügen Beschlossenen zu starten. Auch wenn er in seinem Vortrag konsequent von »Abschiebungen« sprach und den geplanten Massenmord mit den Worten umschrieb, die »nach dem Osten evakuierten« Juden sollten dort »entsprechend behandelt« werden, war für alle Beteiligten zumindest erkennbar, worum es ging. »In Betracht« kämen, wie Heydrich präzisierte, insgesamt elf Millionen als Juden eingestufte Menschen, davon fünf Millionen auf dem Territorium der Sowjetunion und 2,28 Millionen im sogenannten Generalgouvernement, dem von der Wehrmacht besetzten Teil Polens.
Den Holocaust so zu bagatellisieren, wie es Faeser tat und wie es gegenwärtig weithin üblich ist, galt lange Zeit als Missgriff. Diese Hemmschwelle scheint jetzt überschritten oder genau gesagt: Sie wurde von Politikern und Medien anscheinend bewusst aufgehoben, um die Geschichte zu taktischen Zwecken zu manipulieren. Vor der Innenministerin hatte der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr am 11. Januar auf dem Kurznachrichtendienst X (vormals Twitter) geschrieben: »Die Pläne zur Vertreibung von Millionen Menschen erinnern an die dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte«.
»Madagaskar-Plan«
Am selben Tag erschien bei Spiegel (Onlineausgabe) ein langer Text, in dem zwar noch nicht direkt an die Wannseekonferenz »erinnert« wurde, aber »Parallelen« zum sogenannten Madagaskar-Plan ausgemacht wurden. Dessen Grundlage war ein Papier mit dem Titel »Die Judenfrage im Friedensvertrage«, das Frank Rademacher, Legationssekretär im deutschen Außenministerium, im Auftrag des Ministers Joachim von Ribbentrop federführend ausgearbeitet und im Sommer 1940 vorgelegt hatte. Inhalt war die logistische Durchführung der Deportation von mindestens vier Millionen europäischen Juden auf die ostafrikanische Insel, die damals zum französischen Kolonialreich gehörte. Am 10. Februar 1942 schrieb Rademacher den Beteiligten an der Planung, dass diese obsolet geworden sei, da Hitler entschieden habe, »dass die Juden nicht nach Madagaskar, sondern nach dem Osten abgeschoben werden sollen«.
Dass es sich beim »Madagaskar-Plan« jemals um ein wirklich in Betracht gezogenes Projekt gehandelt hat, wird von der Mehrheit der Historiker bezweifelt. Wahrscheinlich war es nur ein ähnliches Ablenkungsmanöver wie der sogenannte Nisko-Plan, der angeblich die Schaffung eines »Judenreservats« im besetzten Polen zum Gegenstand hatte und schon Ende Oktober 1939, nicht einmal zwei Monate nach Beginn des deutschen Überfalls auf Polen, zu den Akten gelegt und nicht weiterbetrieben wurde. Praktisch ging es ebenso wie beim »Madagaskar-Plan« darum, die Zeit zu überbrücken, in der sich die Naziführung den Umgang mit der »Judenfrage« als erhofftes Erpressungspotential vor allem gegenüber den USA scheinbar noch offenhielt.
Hintergrund: Zur Debatte um Antisemitismus
Antisemitismusvorwürfe wiegen aus guten Gründen besonders schwer, sind aber in vielen Fällen von politischen Interessen beeinflusst und lassen sich oft nicht eindeutig klären. Mit dem ursprünglichen Antisemitismus haben solche Vorwürfe nur noch selten zu tun und setzen nicht einmal einfache Grundkenntnisse über diesen voraus. Nahezu ausschließlich geht es um die Zulässigkeit konkreter Kritik an Handlungen des Staates Israel.
In Streitfragen wird standardmäßig auf die »Arbeitsdefinition von Antisemitismus« verwiesen, die am 26. Mai 2016 vom Plenum der IHRA verabschiedet wurde. Das Kürzel steht für »International Holocaust Remembrance Alliance«, eine überstaatliche Kooperation, der 35 Länder als Mitglieder und neun als Beobachter angehören. Die »Arbeitsdefinition« im eigentlichen Sinn ist kurz, bietet für juristische Auseinandersetzungen keine ausreichend eindeutige Handhabe und ist außerdem erklärtermaßen nicht rechtsverbindlich. Sie lautet in deutscher Übersetzung auf der Website der IHRA: »Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.«
»Zur Veranschaulichung« werden als Anhang eine Reihe von möglichen »Erscheinungsformen von Antisemitismus« aufgelistet. Die Aussage ist aber in der meisten aufgezählten Fällen nur, dass Antisemitismus in diesen Formen auftreten kann, aber nicht, dass es sich zwangsläufig um Judenfeindlichkeit handeln muss, wenn ein Verhalten der geschilderten Art auftritt. Ein einfaches Beispiel: Der Ablehnung eines jüdischen Bewerbers für einen bestimmten Arbeitsplatz oder Posten kann antisemitische Abneigung zugrunde liegen, aber das ist nicht automatisch als einzige mögliche Erklärung anzunehmen. (km)
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