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Aus: Ausgabe vom 10.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Kino

Katz und Hund

Tina Satters Spielfilm »Reality« über die Whistleblowerin Reality Winner
Von Holger Römers
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Geheimdienstleute unter sich: Das FBI bei der Durchsuchung des Hauses von Reality Winner

Nachdem Reality Winner festgenommen worden ist, meint sie immer noch, mit Hundefreunden zu tun gehabt zu haben, als FBI-Beamte ihr Haus durchsuchten und sie befragten. Alle seien besorgt gewesen um ihren Hund und ihre Katze, sagt die junge Frau im mutmaßlich ersten Telefonat, das sie aus der ­U-Haft führt.

Der Anruf wurde ebenso aufgezeichnet wie alle Worte, die die Bundespolizisten seit dem Auftauchen vor Realitys Haus mit ihr wechselten. Auf diesen Tonbandprotokollen hat die US-amerikanische Dramatikerin und Theaterregisseurin Tina Satter ihre, dem Film vorausgehende, Theaterinszenierung »Is This a Room« aufgebaut. Und kurz nach Beginn des Films »Reality« weist eine Texteinblendung darauf hin, dass auch der gesamte Dialog ihres Spielfilmdebüts durch diese Quelle verbürgt sei.

Wenn gelegentlich die seit Aufzeichnungsbeginn verstrichenen Minuten eingeblendet werden, macht die Diskrepanz zur Filmdauer bewusst, dass die Regisseurin, die mit James Paul Dallas auch fürs Drehbuch verantwortlich zeichnet, die Handlungszeit verdichtet. Kurze Momente, in denen die wenigen auftretenden Figuren plötzlich wie ausradiert erscheinen, bevor das Bild sich sprunghaft aus Digitalquadern wieder vervollständigt, weisen indes auf Schwärzungen im Protokoll hin, wie im Einzelfall die zeitnahe Einblendung des Dokuments verdeutlicht.

Gerade diese akribischen Beglaubigungen führen jedoch paradoxerweise dazu, die hintergründige Theatralik jedes einzelnen Wortes hervortreten zu lassen. Dem widerspricht nicht, dass Inszenierung und Schauspiel über weite Strecken um Realismus bemüht scheinen, was dadurch befördert wird, dass das Geschehen fast ausnahmslos auf einem schmucklosen Grundstück in einem anonymen Suburb angesiedelt ist. Der Punkt ist nämlich, dass die realen FBI-Leute und die reale Reality einander – und letztere auch sich selbst – etwas vorspielten.

Da Reality Winner als Whistleblowerin bekannt ist, die 2018 wegen Geheimnisverrats zu über fünf Jahren Haft verurteilt wurde, ist klar, dass die vermeintlich ahnungslose Kooperationsbereitschaft, die die von Sydney Sweeney verkörperte Frau hier an den Tag legt, gegensätzliche Absichten verbirgt. Das gleiche gilt freilich für die Jovialität, mit der die Agenten Garrick (Josh Hamilton) und Taylor (Marchánt Davis) die amtliche Autorität auflockern.

Da kommen Mickey und Mina ins Spiel. Katz und Hund: Noch bevor die Hausdurchsuchung beginnt, gilt eine der ersten Fragen des FBI anwesenden Tieren. Nachdem der Hund in den Vorgarten gebracht worden ist, folgen regelmäßig Erkundigungen nach seinem Befinden, nach Alter, Geschlecht. Andere FBI-Männer erwähnen ständig die Katze, die auf, unter oder im Bett sei, bis Reality auch dieses Tier anleint, nachdem sie zu Protokoll gegeben hat, dass ihre augenblickliche Sorge allein den Vierbeinern gelte.

Da ist ein Drittel des Films verstrichen, und die Hauptfigur hat immer noch nicht den mehrfach erwähnten Durchsuchungsbeschluss sehen wollen. Als sie ihn sich endlich zeigen lässt, wurde sie bereits widerwillig dazu bewegt, die Befragung durch Garrick und Taylor in ein leeres Hinterzimmer zu verlagern, das die allein lebende Frau im unlängst angemieteten Haus offenbar nie nutzt. Vor trostlos-kahlen Wänden steuert ein subtiler Pas de trois dort auf sein unvermeidliches Ende zu.

Dabei stellt sich die Frage nach psychologischen Gründen, die Reality davon abhalten, einen Rechtsbeistand zu fordern. Noch interessanter sind allerdings die soziologischen Hintergründe des ebenso befremdlichen wie faszinierenden Gesprächsverlaufs. Zwar mögen die FBI-Männer nicht den Hass auf Trump teilen, der die ehemalige Luftwaffenangehörige wohl dazu bewog, eine Einschätzung der NSA öffentlich zu machen, die dem russischen Militärgeheimdienst die Verantwortung für den Hackerangriff auf einen Hersteller von Wahlcomputern sowie auf diverse Wahlhelfer zuschrieb. Aber Garrick und erst recht der muskelbepackte Taylor können mit Reality allemal über deren Leidenschaft fürs Gewichtheben und für Fitnessübungen fachsimpeln. Und das gleiche gilt erst recht mit Bezug auf die Schusswaffen dieser Frau, die zur Zeit ihrer Verhaftung für einen privaten Dienstleister der NSA arbeitet. Alle drei sind Mitglieder derselben »Gemeinschaft«, der sogenannten intelligence community, zu der man im US-amerikanischen Sprachgebrauch das unaufhörlich wachsende nachrichtendienstliche Netzwerk verklärt.

Während Montagesequenzen und Musik zu einer diskreten Heroisierung ansetzen, mag man zuletzt um so neugieriger auf die Widersprüche jener Person werden, deren reales Abbild einzelne Originalfotos zeigen, die bei der Durchsuchung in die Hände der Beamten geraten. Laut einem Porträt im New York Magazine hätte Reality Winner gern für eine NGO Hilfsgüter in Afghanistan verteilt. Um so tragischer, dass die naive Menschenfreundlichkeit sie in den militärisch-industriellen Komplex führte. »Laut Aktenlage hat sie geholfen, Hunderte von Leuten zu töten«, heißt es trocken in dem Artikel über die Frau, die Farsi, Dari und Paschtu übersetzte.

»Reality«, Regie: Tina Satter, USA 2023, 83 Min., bereits angelaufen

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