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Aus: Ausgabe vom 10.02.2024, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Griechenland

Athener Privatisierungswahn

Griechische Regierung verscherbelt das letzte Tafelsilber: Flughäfen, Autobahnen und Seehäfen sollen in den kommenden Monaten privatisiert werden
Von Hansgeorg Hermann, Chania
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Die Umgehungsautobahn Attiki Odos im Ballungsraum Athen soll bald in privater Hand sein

In Europa und anderswo auf der Welt gilt allgemein die ökonomische Regel, dass staatliche Autobahnen und die meisten Flughäfen sichere Einnahmequellen der öffentlichen Hand sind. Trotzdem ist Griechenland in diesen Tagen dabei, die letzten und besten Stücke seines Tafelsilbers an Private zu verhökern. Die Hellenen, die für dieses Jahr erneut einen gewaltigen Schub im Tourismusgeschäft erwarten, werden in den kommenden Wochen nicht nur den zentralen Hauptstadtflughafen Eleftherios Venizelos an der Börse vollends in fremde Hände geben; geplant ist auch die Vergabe der Lizenzen für die Ausbeutung der größten Autobahnstrecke zwischen Igoumenitsa und der türkischen Grenze bei Alexandroupolis, sowie des Athener Schnellstraßenrings Attiki Odos.

Der neoliberalen Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie, die in Frankreich seit 2017 der rechte Präsident Emmanuel Macron in die Praxis umsetzt, huldigt seit seinem ersten Wahlsieg im Juli 2019 auch der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis. Seinem »besten Freund« in Europa wirtschafts- und finanzpolitisch auf Schritt und Tritt folgend, sieht der Grieche mit einer rechtsnationalen absoluten Parlamentsmehrheit im Rücken offenbar keine politischen und verfassungsrechtlichen Hindernisse mehr auf dem Weg zu einer weitgehend privatisierten Nation. Dabei hatte der Pariser Rechnungshof, die oberste Finanzkontrollbehörde der Republik, den Staatschef und seine seit 2017 amtierende Regierung noch vor einem Jahr zur Umkehr gemahnt: Seit 2015, als Macron – damals noch als Wirtschaftsminister des sozialdemokratischen Präsidenten François Hollande – die staatlichen Autobahnen für eine neue, auf 40 Jahre festgeschriebene Pacht an zwei private Konzerne freigab, habe die Haushaltskasse der Republik rund 55 Milliarden Euro verloren und sich statt dessen mit einer Pacht von einer Milliarde Euro für zehn Jahre begnügt.

In Athen trennt sich die Regierung zunächst von ihren 30 Prozent der Anteile am Flughafen Venizelos. Nachdem sie bereits das zwei Millionen Quadratmeter große Gelände des alten Flughafens Ellinikon an den griechischen Immobilienmogul Spiros Latsis und seine »Entwicklungsgesellschaft« Lamda zum Niedrigpreis von rund 900 Millionen Euro und eine auf 99 Jahre festgeschriebene Pacht veräußert hat, folgt nun die Freigabe des Aktienpakets Venizelos, die angeblich rund 785 Millionen Euro in die Kassen der ehemaligen »Pleitegriechen« spülen soll.

Mit insgesamt 5,77 Milliarden Euro Einnahmen aus Privatisierungsmaßnahmen rechnet die griechische Regierung für 2024. Dazu zählen, neben den Autobahnen Egnatia (Igoumenitsa – Türkei) und Attiki Odos, auch die Seehäfen Heraklion und Volos, sowie Lavrio, von wo aus einst linke politische Gefangene auf die Gefängnisinsel Makronisos verschleppt wurden. Große Profiteure der über zehn Jahre durchgezogenen Krisenpolitik sind letztlich, wie zu erwarten, die vier griechischen Großbanken – »systemrelevant«, wie das Handelsblatt in dieser Woche treffend formulierte –, die zunächst mit Staatsgeld gerettet wurden und nun sogar bei den streng kapitalorientierten Ratingagenturen wieder Gnade gefunden haben. In den ersten drei Quartalen des vergangenen Jahres »erwirtschafteten« sie, wie griechische Wirtschaftsblätter meldeten, Nettogewinne von rund drei Milliarden Euro.

Welche wirtschaftlichen und sozialen Folgen die ungebremste Privatisierungswut des Regierungschefs und seiner Handlanger wie Latsis haben kann, konnten die Griechen vor einem Jahr auf der Bahnstrecke Athen – Thessaloniki in der Praxis beobachten. Nahe der Kleinstadt Tempi (Larissa) war in der Nacht zum 28. Februar ein Schnellzug aus der Hauptstadt, besetzt vor allem mit jungen Leuten auf dem Weg zur Universität Thessaloniki, frontal mit einem Güterzug ­zusammengestoßen. Bilanz: 57 Tote und mehr als 200 Schwerverletzte. Ursache: Personalabbau und Inkompetenz des neuen italienischen Eigentümers Ferrovie dello Stato Italiane der ehemals staatlichen griechischen Eisenbahngesellschaft OSE, die die Regierung in Athen 2017 für lächerliche 45 Millionen Euro verscherbelt hatte.

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (10. Februar 2024 um 09:50 Uhr)
    Fakt ist, dass Griechenland in diesen Tagen dabei ist, die letzten und besten Stücke seines Tafelsilbers an Private zu verhökern. Aber ein Land, das sein Tafelsilber an private Bieter verkauft, verliert nicht nur materielle Vermögenswerte, sondern riskiert auch, einen Teil seiner Souveränität und Identität aufzugeben. Für viele Bürger bleibt die zentrale Frage: Was wird aus einem Land, das nicht mehr die Kontrolle über seine wichtigsten Verkehrswege und Einrichtungen hat? Die Rechnung mögen kurzfristige Einnahmen sein, aber die langfristigen Auswirkungen auf die Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur könnten weitreichend sein. Griechenland steht vor der Herausforderung, nicht nur wirtschaftlich zu überleben, sondern auch seine nationale Seele zu bewahren, während es in die Hände privater Investoren übergeht. Die Antwort darauf wird nicht nur die Griechen betreffen, sondern auch eine Reflexion darüber sein, in welcher Welt wir leben wollen – eine, in der öffentlicher Besitz und kulturelle Identität geopfert werden, oder eine, in der Gemeinschaft und Souveränität geschätzt werden.

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