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Aus: Ausgabe vom 10.02.2024, Seite 3 / Ausland
Russland und der Westen

»Holzköpfe in Berlin«

Dokumentiert: »Warum sollen wir eure Fehler korrigieren?« Wladimir Putin im Interview mit Tucker Carlson. Auszüge
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US-Talkmaster Tucker Carlson interviewt Russlands Präsident Wladimir Putin im Kreml

Der russische Präsident Wladimir Putin hat dem ultrakonservativen US-Fernsehmoderator Tucker Carlson am Dienstag in Moskau ein Interview gegeben, das dieser in der Nacht zum Freitag auf seiner Website veröffentlichte. junge Welt dokumentiert Auszüge aus diesem ersten Interview Putins mit einem westlichen Journalisten seit Beginn des Ukraine-Krieges. (jW)

Tucker Carlson: Glauben Sie, dass Sie den Krieg jetzt beenden könnten? Haben Sie Ihre Ziele erreicht?

Wladimir Putin: Nein, wir haben unsere Ziele noch nicht erreicht, vor allem das der Entnazifizierung der Ukraine. Damit meine ich ein Verbot aller neonazistischen Bewegungen dort. Das war eines der Probleme, das wir bei den Gesprächen in Istanbul besprochen haben, aber diese Verhandlungen sind von der anderen Seite abgebrochen worden. (…) Meine Kollegen in Frankreich und Deutschland haben mir gesagt: Wie stellst du dir das vor, dass sie einen Vertrag unterschreiben mit der Pistole an der Schläfe? Ihr müsst die Truppen von Kiew abziehen. Gut, wir haben sie abgezogen. Aber kaum war das geschehen, haben unsere ukrainischen Gesprächspartner alles, worüber wir uns in Istanbul geeinigt hatten, auf den Müll geworfen und sich auf eine langandauernde militärische Auseinandersetzung mit uns vorbereitet. Mit Hilfe der USA und deren europäischen Satelliten. So ist es zu der heutigen Situation gekommen.

Glauben Sie, dass Wolodimir Selenskij die Freiheit hat, mit Ihnen Verhandlungen über die Beilegung dieses Konflikts zu führen?

Ich weiß es nicht. (…) Aber warum sollte er sie nicht haben? Er ist schließlich mit dem Versprechen gewählt worden, das Land zum Frieden zu führen. (…) Aber als er dann gewählt war, hat er zwei Dinge verstanden. Erstens, dass er es sich mit den Nationalisten lieber nicht verscherzt, denn sie sind aggressiv und sehr aktiv, und man muss bei ihnen mit allem rechnen. Und zweitens, dass der Westen unter Führung der USA immer diejenigen unterstützen wird, die Russland bekämpfen. (…) Also hat Selenskij eine entsprechende Position eingenommen, obwohl er seinem Volk versprochen hatte, den Krieg in der Ukraine zu beenden. Er hat seine Wähler betrogen.

Aber jetzt, im Februar 2024, hat er da die Freiheit, mit Ihrer Regierung zu sprechen und seinem Land irgendwie zu helfen? Kann er das überhaupt?

Warum denn nicht? Er hält sich doch für den Staatschef, er hat die Wahl gewonnen. Wir in Russland sind zwar der Meinung, dass alles, was in der Ukraine seit 2014 passiert ist, die Folge des Staatsstreiches ist, und damit auch seine heutige Macht zumindest Legitimitätsdefizite aufweist. Aber er hält sich für den Präsidenten, die USA und ganz Europa bestärken ihn darin; warum sollte er also nicht verhandeln können? (…) Wenn die Selenskij-Administration Verhandlungen mit uns ablehnt, dann tut sie das auf Anweisung aus Washington. Wenn die USA jetzt langsam zu der Einschätzung kommen, dass das ein Fehler war, dann sollen sie irgendeinen für keine Seite kränkenden Vorwand finden, dieses bescheuerte Gesprächsverbot zurückzunehmen. Aber der Fehler ist auf ihrer Seite passiert, also müssen auch die USA ihren Fehler korrigieren. So einfach ist das. Wenn sie einen Fehler gemacht haben, warum müssen wir ihn dann korrigieren? Wir haben nichts dagegen.

Wäre das nicht zu erniedrigend für die NATO, jetzt Russland die Kontrolle über Gebiete zuzugestehen, die noch vor zwei Jahren zur Ukraine gehört haben?

Ich habe doch gesagt, sie sollen sich eine gesichtswahrende Lösung ausdenken. Es gibt immer Möglichkeiten, wenn der Wille da ist. Die ganze Zeit gab es das Geschrei, man müsse Russland eine militärische Niederlage beibringen. (…) Jetzt merkt wahrscheinlich der eine oder andere, dass das nicht so einfach ist, wie es sich anhört, sondern im Grunde unmöglich. Mir scheint, dass das inzwischen auch dem einen oder anderen, der die Macht im Westen kontrolliert, klar wird. Wir sind zum Dialog bereit.

Können Sie sich vorstellen, dass Sie sagen: Okay, NATO, herzlichen Glückwunsch, ihr habt gesiegt, belassen wir die Situation so, wie sie ist?

Das wäre ein Thema für Gespräche, die mit uns aber niemand führen will. Genauer, vielleicht gern führen würde, aber nicht weiß, wie er das anstellen soll. Sie haben doch selbst die Situation herbeigeführt, die wir jetzt haben. Das waren nicht wir, sondern unsere »Partner« und Gegenspieler. Dann sollen sie sich jetzt auch Gedanken machen, wie sie da wieder herauskommen. Wir lehnen das nicht ab. (…) Früher oder später wird es sowieso eine Verhandlungslösung geben. Und so seltsam das auch in der heutigen Situation klingen mag: Die Beziehungen zwischen den Völkern werden wieder aufleben. Das wird viel Zeit brauchen, aber es wird passieren.

Ich will Ihnen ein Beispiel aus dem Leben bringen. Kampfhandlungen, ukrainische Soldaten sind eingeschlossen. Unsere rufen ihnen zu: »Ergebt euch und rettet euer Leben.« Als Antwort kam: »Russen ergeben sich nicht!« Das heißt, sogar jetzt noch fühlen sie sich als Russen. In diesem Sinn ist das, was in der Ukraine geschieht, ein Bürgerkrieg, in dem ein Teil des russischen Volkes gegen den anderen gehetzt wird. Aber die beiden Teile werden sich wieder vereinen. Das ist unausweichlich.

Wer hat »Nord Stream« gesprengt?

Sie natürlich. (lacht)

Ich hatte an dem Tag anderes zu tun. Ich habe »Nord Stream« nicht gesprengt.

Na gut, dann haben Sie persönlich ein Alibi. Aber die CIA hat keines.

Haben Sie Beweise dafür, dass NATO oder CIA dahinter gesteckt haben?

Ohne in die Details zu gehen, aber man sagt in solchen Situationen immer: Schuldig ist der, der einen Vorteil davon hat. In diesem Fall muss man darüber hinaus auch noch fragen, wer die Möglichkeiten hatte, so etwas zu machen. Motive können viele haben, aber auf dem Grund der Ostsee eine Pipeline zu sprengen, das können nicht alle. Man muss beide Komponenten zusammenführen: wer das Interesse hatte und wer die Fähigkeit.

Was ich nicht ganz verstehe: Wir haben es mit einem ungeheuerlichen Akt von Industrie­terrorismus zu tun und, am Rande bemerkt, einem riesigen Ausstoß von CO2 in die Atmosphäre. Wenn Sie von Ihren Geheimdiensten Belege dafür haben, warum machen Sie sie nicht öffentlich und tragen einen Propagandasieg davon?

Im Propagandakrieg ist es sehr schwer, die USA zu besiegen, weil die USA die weltweiten und sehr viele europäische Medien kontrollieren. (…) Deshalb könnten wir zwar mit dieser Arbeit anfangen, aber wie man so sagt, es steht nicht dafür. Es besteht die Gefahr, dass wir unsere Quellen offenlegen und trotzdem nichts erreichen. Die Welt weiß ohnehin, was da passiert ist, sogar amerikanische Experten reden darüber.

Sie haben in Deutschland gearbeitet, und die Deutschen wissen doch genau, dass ihre NATO-Partner sie da hereingelegt haben. Natürlich hat das der deutschen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzt – ­warum schweigt Deutschland dann?

Ich wundere mich auch darüber. Aber die heutige Regierung Deutschlands lässt sich nicht von den nationalen Interessen leiten, sondern von denen des kollektiven Westens. Anders ist die Logik ihres Handelns oder Nichthandelns nicht zu erklären. Es geht ja nicht nur um »Nord Stream 1«, die beschädigt, und »Nord Stream 2«, die nie in Betrieb genommen wurde. Auch wenn eines der Röhren heil geblieben ist und man dort Gas nach Europa hindurchpumpen könnte. Bitte schön, wir sind dazu bereit.

Es gibt ja auch noch die Leitung »Jamal-Europa« durch Polen. Auch da könnte man viel transportieren. Aber Polen hat sie geschlossen und beißt die Hand, die es füttert. Es bekommt sehr viel Geld aus den EU-Töpfen, und diese Mittel kommen vor allem aus Deutschland. In diesem Umfang finanziert Deutschland Polen. Trotzdem haben die Polen die Transitleitung geschlossen. Warum? Ich weiß es nicht.

Auch durch die Ukraine, in die die Deutschen Waffen und Geld pumpen, verlaufen zwei Gasleitungen. Die Ukrainer haben die eine einfach gesperrt. (…) Ich verstehe nicht, warum Deutschland der Ukraine nicht sagt: »Hört zu, Leute, wir zahlen euch einen Haufen Geld, also öffnet bitte die Ventile und lasst russisches Gas zu uns durch. Wir kaufen Flüssiggas dreimal so teuer anderswo ein, das ruiniert die Grundlagen unserer Wettbewerbsfähigkeit. Wenn ihr wollt, dass wir euch finanzieren, dann sorgt dafür, dass wir dieses Geld auch erwirtschaften können.« Nein, das machen sie nicht. Warum, das können Sie die Deutschen fragen. (schlägt auf den Tisch) Genau dieses Holz haben sie dort im Kopf. Dort regieren ausgesprochen inkompetente Leute.

Hintergrund: Putins Rundschlag

Gut zwei Stunden dauert die Videoaufzeichnung des Interviews von Wladimir Putin mit dem US-amerikanischen Blogger Tucker Carlson. Putin begann mit längeren historischen Darlegungen, wonach die ­Ukraine seit dem neunten Jahrhundert zu Russland gehört habe und erst durch den Mongolensturm von 1240 von ihm losgerissen worden sei. Den ukrainischen Nationalismus bezeichnete Putin als eine Erfindung des österreichischen Generalstabs aus dem späten 19. Jahrhundert. Aus »irgendwelchen Gründen« habe Lenin, anders als Stalin, der in Sachen Nationalitätenpolitik bei Putin entschieden besser wegkommt, den großen Fehler begangen, den Unionsrepubliken das Recht zum Austritt aus der Union zuzugestehen. Bei der Erläuterung der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs sprach Putin übrigens konsequent von »Danzig« und »Königsberg«. Auch an anderer Stelle ließ er seine Vertrautheit mit der deutschen Geschichte durchklingen, zitierte etwa Egon Bahr, den er einen »schlauen Burschen« nannte, und das Bismarck-Wort, wonach nicht Absichten, sondern Potentiale in Konflikten entscheidend seien.

Ausführlich auch Putins Darlegungen darüber, wie der politische Westen Russlands Freundschaftswerben nach 1991 zurückgewiesen und das Land getäuscht habe. Mehr auf das US-Publikum zugeschnitten waren längere Ausführungen über die Rolle der verschiedenen Religionen in Russland und ein längerer Replikenwechsel über den unter Spionagevorwürfen in Russland inhaftierten US-Bürger Evan Gershowitz. Putin deutete an, dass er nichts dagegen hätte, wenn dieser demnächst im Wege eines Austausches freikommen könnte. Aber dazu müssten die USA ein Angebot machen. (rl)

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  • Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (11. Februar 2024 um 15:50 Uhr)
    Der ehemalige Fox-Moderator und Superstar Tucker Carlson fungierte in seinem Interview lediglich als Stichwortgeber für den russischen Staatschef. Der Kreml freute sich über die propagandistischen Möglichkeiten. Putin brachte keine neuen Erkenntnisse, sondern wiederholte lediglich seine bekannten Thesen. Neu in der Geschichte ist jedoch, dass mehrere Millionen westliche Zuschauer von Carlsons eigener Sendung auf der X-Plattform diesmal Putins Ansichten hören konnten. Dies geschieht in einem Land, das sich als Hochburg der Demokratie bezeichnet und behauptet, leider jedoch keine Selbstverständlichkeit dafür aufbringt. Im gesamten Gesprächsverlauf präsentierte sich der Kremlchef Putin ungewöhnlich gemäßigt. Ein Einmarsch Russlands in die NATO-Staaten Polen und Lettland sei »absolut ausgeschlossen«. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könne, russische Truppen nach Polen zu schicken, antwortete Putin eindeutig: »Nur in einem Fall – wenn Polen Russland angreift.« Es scheint, als habe die Angelegenheit zwei Geschmäckle. Tucker Carlson verhielt sich sehr zurückhaltend, anders als wir ihn kennen. Und ob hinter dem ungewöhnlich diplomatischen Kurs von Putin nicht doch ein tatsächlicher Propagandakniff steckt, um die Befürworter einer Verhandlungslösung im Westen zu stärken und sie zu spalten, bleibt abzuwarten.
  • Leserbrief von Franz (10. Februar 2024 um 10:13 Uhr)
    Da hat Präsident Putin doch recht: Lenin wollte ein Austrittsrecht, Stalin zuerst nicht – wurde dann aber von Lenin überzeugt. Was die Minderheitspolitik betrifft, so war es Stalin, der diese förderte, er ließ sogar Schriftsprachen für Minderheiten schaffen, die eine Schriftsprache noch nicht hatten. Außerdem sollte jede Region einheimische Vorsitzende haben oder zumindest sollten Russen die lokale Sprache lernen. Das alles änderte sich dann mit dem Antikommunisten Chruschtschow, der eine Russifizierung durchsetzte. Doch trotz Chruschtschow und seine Nachfolger entschieden sich im letzten Volksentscheid der Sowjetunion 1991 in der Ukraine über 82 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion. Ein höherer Anteil als in Weißrussland. Dies zeigt, wie erfolgreich Lenins und Stalins Staatsgründung war. Erst der Volksverräter und Sozialdemokrat Gorbatschow und nach ihm der neoliberale Jelzin zerstörten Lenins und Stalins Werk.
  • Leserbrief von Nicolas Evertsbusch aus Köln (10. Februar 2024 um 02:01 Uhr)
    »Ohne in die Details zu gehen, aber man sagt in solchen Situationen immer: Schuldig ist der, der einen Vorteil davon hat. In diesem Fall muss man darüber hinaus auch noch fragen, wer die Möglichkeiten hatte, so etwas zu machen« sagt Putin zur Frage, wer Nord Stream gesprengt hat. Komisch, bei der Argumentation musste ich irgendwie an den Tod von Prigoschin denken …

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