4. Mai, Diskussion zu Grundrechten
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Aus: Ausgabe vom 09.02.2024, Seite 11 / Feuilleton
Psychologie

»Wer immer wach ist, kommt nicht zur Ruhe«

Über die Psychologie hinter Wokeness und das Menschen- und Weltbild, das mit ihr verbunden ist. Ein Gespräch mit Esther Bockwyt
Von Marc Hieronimus
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»Vielleicht erscheint der gute alte Klassenkampf nicht modern und greifbar genug«: Demonstration vor dem Hauptsitz der BBC in London (18.3.2023)

Frau Bockwyt, Sie haben ein psychologisch fundiertes Buch über sogenannte Wokeness geschrieben. Was bedeutet »woke«, und was ist daran schlecht?

Woke bedeutet laut Duden in hohem Maße wach und politisch engagiert gegenüber Diskriminierungen. Lediglich im Verweis auf ein Übermaß an Wachheit liegt hier schon ein Hinweis auf etwas potentiell Ungesundes. Wer immerzu wach und auf der Lauer ist, kommt nicht zur Ruhe, seine Wahrnehmung engt sich auf ein Thema ein, hier: Diskriminierung. Der entdeckt stets neue Anzeichen hierfür, denn wenn man will, findet man, was man sucht und läuft Gefahr, in eine Art Dauerwutmodus zu verfallen.

Wokeness ist eine Bewegung, die ein recht geschlossenes Weltbild vereint, nämlich ein solches, das in westlichen Gesellschaften nur entweder rassistische Unterdrücker einerseits und Unterdrückte andererseits sieht. Eine Bewegung, die Objektivität leugnet, die Menschen anhand von Merkmalen wie Hautfarbe, sexueller Orientierung, körperlicher Verfassung und Co. in Gruppen einteilt. Eine Bewegung, die planwirtschaftlich anmutend die Sprache, die Kulturinhalte, den zwischenmenschlichen Umgang immer weiter einengt, eine Art Symbolpolitik im Glauben daran, hierdurch Veränderungen zu bewirken, während reale Probleme ungelöst bleiben. Eine Bewegung, die spaltet und nie zufrieden ist. Um nur ein paar Attribute zu nennen, es gibt so viele mehr.

Woke Menschen werden Ihnen sicher vorwerfen, selbst zu den Privilegierten zu gehören. Sie sind weiß, »normschön« und entstammen vermutlich auch nicht allzu proletarischen Verhältnissen. Eigentlich fehlt Ihnen nur noch ein Penis, und das Hassbild ist komplett.

Doch, ich stamme ursprünglich schon aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet mit sozialdemokratischem Hintergrund. Meine Eltern haben sich ein Stück weit hochgearbeitet und Wohlstand erarbeitet. Aber ja, es ist so, wie Sie schreiben, das »Weißsein« reicht, um abgewertet zu werden. Wokeness entzieht sich jeder Kritik, zum einen dadurch, dass man sie nicht einmal benennen sollte. Zum anderen dadurch, dass sie eine jede Kritik im Sinne ihres Weltbilds auslegt: Kritisiert werde nur, um die weiße Vorherrschaft und die entsprechenden Privilegien zu sichern. Insofern ist es mir gleichgültig, was Woke mir vorwerfen würden, ich kann das nicht mehr ernst nehmen.

Als Grundlagen des woken Menschen- und Weltbildes machen Sie fünf auf den ersten Blick einander widersprechende Charakterzüge aus. Könnten Sie das erläutern?

Es handelt sich um Charakterzüge und um Bedürfnisse, die jeder Mensch in gewissem Maße in sich trägt. Jeder hat narzisstische Anteile, auch depressive. Erst, wenn die Anteile jeweils oder in Kombination ein gewisses Ausmaß annehmen, werden sie ungesund. Bei Wokeness kommen aus meiner Sicht alle der genannten psychischen Anteile in hohem Maße zum Ausdruck: Narzissmus, Zwanghaftigkeit, Histrionik, Wut und die depressive, negativistische Grundausrichtung.

Warum ist woke gerade heute ein Thema, diese Charakterzüge gibt es ja schon länger? Hängt es nicht auch damit zusammen, dass der Kapitalismus als Ursache von Ungleichheit für Linke kein Thema mehr ist?

Die beschriebenen psychischen Mechanismen sind keine Erklärung dafür, warum es Woke gibt. Sie sollen lediglich die Psychologie hinter Woke­ness verständlicher machen. Das Menschen- und Weltbild, das mit ihr verbunden ist.

Es ist eine gute Frage, warum Teile der Linken, die Woken, ihre Inhalte im Kampf gegen das Bestehende ausgetauscht haben. Manch einer vermutet, dass es einfacher ist, auf die woke Art vorzugehen. Vielleicht erscheint der gute alte Klassenkampf den jungen Linken nicht modern und greifbar genug. Ohnehin wirkt Wokeness auf mich wie ein Lifestyle. Neue Karrieren werden durch Wokeness möglich. Und man lebt in der Illusion, damit fortschrittlich zu agieren.

Bei der tatsächlich unterprivilegierten arbeitenden Bevölkerung ohne finanzielle und mit geringen kulturellen Ressourcen dürfte die Ablehnung der als urban, intellektuell und grün wahrgenommenen Ideologie am größten sein. Diese Klasse kommt in Ihrem Buch nicht vor.

Ja, und die Ablehnung kann ich gut nachvollziehen. Wokeness ist lebensfremd und abgehoben. Die angesprochene Gruppe kommt in meinem Buch nicht vor, da ich ein Buch über woke Menschen und Wokeness geschrieben habe. Mir war es aber wichtig, dass auch politisch sonst nicht Interessierte das Buch lesen können und einen guten Eindruck, ein Gefühl dafür entwickeln, was hinter der Bewegung steckt, die durch ihren Marsch durch die Institutionen uns künftig und wahrscheinlich noch eine Zeit lang beschäftigen wird. Es sollte eben kein intellektuell abgehobenes Buch werden, ich hoffe, das ist mir gelungen.

Esther Bockwyt: Woke. Psychologie eines Kulturkampfs. Westend-Verlag, Neu-Isenburg 2024, 144 Seiten, 18 Euro

Esther Bockwyt, Jahrgang 1985, ist Diplompsychologin und Rechtspsychologin. Sie ist Autorin zahlreicher Fachbücher zur klinischen Psychologie und forensische Gutachterin. 2020 widmete sie sich in ihrem Podcast »Psycho-Logisch« den Grundlagen der menschlichen Psyche und der Narzissmusthematik.

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