Keine Aufklärung ohne Kritik
Alfred Grosser ist tot. Der französische Politologe und Publizist starb am Mittwoch im Alter von 99 Jahren in Paris. Grosser hatte sich die deutsch-französische Verständigung zur Lebensaufgabe gemacht. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen bekämpfte er Klischees und warb für Verständnis für die Perspektive des Nachbarn.
Grosser wurde am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren. Die jüdische Familie floh 1933 nach Frankreich, wo er vier Jahre später die französische Staatsangehörigkeit erhielt. Grosser beteiligte sich an der Résistance und studierte in Aix-en-Provence sowie Paris Politikwissenschaft und Germanistik. Ab 1955 lehrte er am renommierten Institut d’études politiques de Paris (Sciences Po) und schrieb für zahlreiche Zeitungen politische Kolumnen. Mit vielen Veröffentlichungen profilierte er sich als Mittler zwischen Frankreich und Deutschland, deren politische Annäherung er zugleich nüchtern betrachtete: So sei es Frankreichs Präsident Charles de Gaulle 1963 bei der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags in erster Linie darum gegangen, die BRD aus dem Machtbereich der USA herauszulösen.
Als streitbarer Intellektueller intervenierte Grosser in öffentliche Debatten, sein radikaler Menschenrechtsuniversalismus provozierte. So nannte er den Solidaritätsmarsch nach den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 eine Heuchlerparade, weil daran auch Vertreter der türkischen Regierung teilnahmen. Seine zum Teil harsche Kritik an der israelischen Besatzungspolitik wurde Grosser in der Bundesrepublik oft zum Vorwurf gemacht. Wegen seines Buchs »Von Auschwitz nach Jerusalem« (2009), in dem er eine Tabuisierung von Kritik an Israel in der BRD beklagte, wurde ihm Antisemitismus vorgeworfen; der Zentralrat der Juden in Deutschland verwahrte sich dagegen, dass er 2010 als Hauptredner einer Feier zum Gedenken an die Pogromnacht in der Frankfurter Paulskirche sprach (die Veranstaltung geriet dennoch versöhnlich). Für Grosser gab es keine Aufklärung ohne Kritik: Als Frankreich in Algerien foltern und Dörfer zerstören ließ, habe er mit derselben Schärfe, mit der er heute Israel kritisiere, die Franzosen verurteilt, begründete er seine Haltung. Zugleich verteidigte er das Existenzrecht des jüdischen Staates und lehnte ein generelles Rückkehrrecht für alle Nachfahren geflüchteter und vertriebener Palästinenser ab.
Grosser erhielt u. a. den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1975), die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt am Main (1986), den Grand Prix de l’Académie des Sciences morales et politiques (1998), den Abraham-Geiger-Preis des Abraham-Geiger-Kollegs (2004) und den Henri-Nannen-Preis für das publizistische Lebenswerk (2014). (pm)
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